White Horse
wieder gut
wird, dann nicht so, wie es früher war. Wir haben zu viel verloren.«
Zwischen uns steht eine Wand. Ich sehne mich nach einem groÃen
Hammer, der sie einreiÃt.
»Das mit deinem Bruder tut mir leid. Ich habe seinen Namen auf der
Liste gesehen.«
Er hat sich unbemerkt dicht neben mich geschlichen. Ich würde mich
gern in seine Arme flüchten. Er hat den perfekten Platz für mich, dicht unter
seinem Kinn. Aber ich wage es nicht. Nicht ohne seine Einladung. Vielleicht
nicht einmal dann.
»Ich muss zu meinen Eltern. Wenn sie noch leben.«
»Sind sie in der Stadt?«
»In Griechenland. Jeden Sommer kehren sie in die alte Heimat zurück
und erzählen dort, wie groÃartig das Leben in Amerika ist.« Er lächelt. »Und
wenn sie wieder hier sind, reden sie nur von der Schönheit Griechenlands.«
»Wie zum Henker willst du nach Griechenland kommen?«
»Es gibt immer noch Flüge â wenn du den Preis bezahlen kannst.«
»Und der wäre?«
»Blut. Medikamente. Lebensmittel. Alles, was knapp und schwer
erhältlich ist.«
In der Stadt erlöschen die Lichter. Die Nacht hüllt uns ein.
Nick und ich starren einander durch die Finsternis an. Dreihundert
Millionen Leichen stapeln sich zwischen uns. In einem anderen Leben könnte ich
ihn lieben. In diesem Leben könnte ich ihn nur verlieren.
Gegen Morgen flackern die Lichter wieder auf. Das bringt uns
keinen Trost, weil wir wissen, dass es nicht von Dauer ist. Irgendwann wird
sich die Elektrizität endgültig verabschieden. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Wir halten den Atem an und warten.
ZEIT: JETZT
Die Tiere hüten ein Geheimnis.
Zuerst brechen die Vögel auf. In einer dichten Wolke erheben sie
sich zu Tausenden von den umliegenden Bäumen in die Lüfte. Die Roma stecken
flüsternd die Köpfe zusammen. Etwas Seltsames ist im Gange, aber ich weià nicht
was. Mir ist nur klar, dass Vogelschwärme auÃerhalb der groÃen Herbstzüge
nichts Gutes bedeuten.
Ihnen folgen die schlanken, langbeinigen Hunde der Menschen. Mit
angelegten Ohren und weit heraushängenden roten Zungen preschen sie davon, so
zahlreich und schnell, dass sie tiefe Furchen im Erdreich hinterlassen.
Geheimniskrämer, sie alle.
ZEIT: DAMALS
Eines Morgens schlurfen tausend FüÃe über den verwitterten
Asphalt. Männer, Frauen und Kinder aller Altersgruppen, erschöpft, schmutzig,
stumpf vor sich hin starrend. Sie haben ihre Körper auf die Reise geschickt,
aber vergessen, ihre Seelen einzupacken.
»Kanadier«, sagt Nick. »Sie ziehen in den Süden.«
»Wie die Vögel«, meint Morris.
Die anderen treffen nach und nach ein. Durch die Fenster im
Obergeschoss beobachten wir den trostlosen Zug.
»Wir sollten sie mit Essen versorgen.« Die Worte kommen von einem
bulligen Typ namens Troy, der eben erst die Highschool abgeschlossen haben
kann. Für Kids wie ihn gibt es keine Colleges mehr. Alles, was er lernt, kommt
von der StraÃe.
»Was â alle?«, faucht Casey. Mitglied der Nationalgarde. Ein
winziges Persönchen, das früher mal Hausbesuche als Kosmetikberaterin machte.
Troy verschränkt die Arme und macht sich noch gröÃer, als er ist.
»Die sind am Verhungern.«
Morris versucht zu vermitteln. »Unsere Vorräte reichen nicht für so
viele Leute. Sie müssen sich schon irgendwie selbst versorgen. Es gibt da
drauÃen noch genug zu essen. Auch Unterkünfte werden sie finden. Wir können
ihnen nicht alle Stolpersteine aus dem Weg räumen. Unsere Aufgabe ist es, sie
zu beobachten und sicherzustellen, dass sie keine Schwierigkeiten machen.«
Der Streit endet in einem Waffenstillstand. Wir alle wissen, weshalb
es freie Unterkünfte gibt. So viele von uns sind gestorben, dass alles im
Ãbermaà vorhanden ist â ausgenommen Menschen, Frischkost und Optimismus.
»Das Gesetz der natürlichen Auslese«, murmelt einer.
»Unsinn«, werfe ich ein. »An dieser Auslese ist nichts natürlich.«
Morris klatscht in die Hände und ringt mühsam um Kontrolle, bevor
Freunde zu Feinden werden.
»Auf eure Posten, Leute! Ich glaube nicht, dass es Probleme geben
wird. Sie erscheinen mir zu erschöpft und deprimiert. Allerdings sind sie auch
verzweifelt. Und verzweifelte Menschen tun nicht immer das Richtige.«
Wir machen uns an die Arbeit. Seit Tagen hat sich kaum etwas verändert.
Der
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