White Horse
Leben sein,
obwohl er das leugnet und sich betont zuversichtlich gibt. Aber nichts ist mehr
sicher â nicht einmal das Morgen. Ich würde nicht einmal darauf wetten, dass an
diesem Abend die Sonne untergeht.
Ich sitze auf dem Boden einer Jacht, umgeben von all meinen
Habseligkeiten â alten Klamotten, Landkarten und Nicks Brief. Was kann ich tun?
Der Teppich lässt sich leicht anheben. Ich ziehe ihn nur so weit
hoch, dass ich sehen kann, wie das Tischrohr am Boden verankert ist. Bolzen.
Irrsinnig fest.
Was habe ich, um sie zu lösen? Ein dickes, fettes Nichts.
Ein heftiger Schmerz jagt meine Wirbelsäule entlang. Ich verändere
die Stellung, lege mich auf den Rücken, atme tief durch. Das Baby macht jede
Bewegung mit. Ich starre die Tischunterseite an. Sie besteht aus einer billigen
Faserplatte, die abbröckelt, als ich mit dem Fingernagel darüberfahre. Darunter
steht eine Zahl. Eine Losnummer vielleicht. Oder eine verschlüsselte Botschaft
für jemanden, der längst tot ist.
Und plötzlich sehe ich etwas, das mir bislang entgangen ist. Ob es
an der Schwangerschaft liegt, an der Unterernährung oder an meiner Erschöpfung â mein Verstand ist nicht mehr so scharf wie früher. Aber jetzt sehe ich etwas, und leise Hoffnung breitet sich aus. Die
Tischplatte ist mit vier silbern glänzenden Schrauben an einem T-Träger
befestigt. Die Hoffnung durchläuft einen kurzen Lebenszyklus und stirbt so
schnell, wie sie geboren wurde. Die Handschellen lassen sich nie und nimmer
über den Träger streifen, der eine feste Einheit mit der Stütze bildet.
Der Schweizer wird mir mein Kind wegnehmen. Und ich bin zum Tod
verurteilt.
Warum holst du uns nicht hier heraus, Nick?
Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich kann nicht sterben, ohne Nicks
Brief gelesen zu haben.
Ich habe letzte Nacht von dem Brief geträumt.
Schon wieder?
Ich nicke.
Von genau dem gleichen Brief?
Es ist immer der gleiche Brief.
Beschreib ihn mir, Zoe.
Ein Papierumschlag eben. Schmuddelig.
Zerfledderte Ecken.
Welche Gefühle weckt er in dir?
Schreckliche Angst. Und Neugier.
Wieder das GefäÃ. Ich habe keinen Hammer. Diesmal müssen meine
Finger die Hülle lösen, die meine Ãngste umschlieÃt.
Baby,
ich muss fort. Es zerreiÃt mir das Herz,
dich jetzt zu verlassen, da wir uns eben erst gefunden haben. Meine Familie ist
nur ein Grund â der andere bin ich selbst. Ich bin krank. Die Symptome deuten
auf White Horse hin. Ich möchte dich keinesfalls in Gefahr bringen. Du kennst
meine Gefühle für dich. Ich hoffe, du teilst sie, und bete doch, du teilst sie
nicht. Das wäre einfacher für uns. Ich gehe nach Griechenland, um meine Familie
zu suchen. Zumindest breche ich in diese Richtung auf. Mal sehen, wie weit ich
komme. Leb weiter. Bitte.
Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.
Nick
Aus dem Nichts kommt ein Zug, rast mitten durch mein Herz und
meine Seele und hinterlässt einen Krater, wo sich mein Ich befand. Das ist
nicht wahr. Nick kann nicht tot sein.
Nein.
Nein.
Ich glaube es nicht. Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht glauben.
Mein zerstörtes Herz schafft es nicht, einen Tränensturm zu entfesseln.
Ich bin ein leerer Raum, der jeden Moment in sich zusammenfallen kann wie ein toter
Stern. Ich bin ein Schwarzes Loch.
Kälte. Ruhe. Vakuum.
Ich falte die Sachen zusammen, die der Schweizer achtlos auf den
Boden geworfen hat, und verstaue sie ordentlich in meinem Rucksack. Nesttrieb.
Als diese Arbeit erledigt ist, lege ich mich flach hin, um die Rückenschmerzen
zu lindern. Die Wandschränke wecken mein Interesse. Ich erreiche sie mit den
FüÃen. Wenn ich einen Stiefel ausziehe, kann ich mit den Zehen die Klinken nach
unten drücken, die bei schwerer See die Türen sichern. Genau das tue ich. Die Unterschränke sind
vollgestopft mit Säuglingsmilchersatz in Dosen und Wasser in Plastikflaschen.
Mein Blick fällt auf etwas, das ich schon oft gesehen habe, allerdings nicht in
den letzten Monaten.
Nick kann nicht für immer fort sein. Das lasse ich nicht zu. Wenn
ich all diese Dinge tue, dann ist er nicht für immer fort. Ich verbanne den Tod
durch Taten .
Die Rückenschmerzen nehmen zu, als ich mich noch mehr strecke, um
den Heiligen Gral zu erreichen, das GroÃe Mysterium â eine rechteckige Box aus
schwarz lackiertem Metall. Der Schweizer hat sie auf der ganzen Reise
mitgeschleppt. Und nun
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