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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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bräunlicher Fleck zeigt an, wo
sie lag. Die Sonne und der durstige Beton haben die Feuchtigkeit aufgesogen.
Aber von der Frau, deren Blut sie tranken, ist keine Spur geblieben. Ein
Frösteln überkommt mich, als ich darüber nachdenke, was geschehen sein könnte.
Wurde sie von irgendeiner Bestie weggeschleppt? Und wenn ja, wie groß war die
Gefahr, die mir im Schlaf drohte? Oder gelang ihr die Flucht? Niemals. Der
Schuss war tödlich. Nein, auf keinen Fall. Auf gar keinen Fall. Aber eine
kleine Stimme erinnert mich, dass die Gesetze der Biologie ihre Gültigkeit
verloren haben. Dass jetzt Dinge existieren, die es früher nicht gab.
    Der Schweizer rückt die Laufplanke zurecht. Das Boot erzittert unter
seinen schweren Schritten.
    Â»Wo ist sie?« Seine geschwollenen Adern treten wie fette Würmer
unter der rosigen Haut hervor.
    Â»Ich weiß es nicht.«
    Â»Lüg mich nicht an!«
    Â»Ich habe nichts gesehen.«
    Â»Du warst doch hier. Du musst etwas gesehen haben.« Sein Finger
sticht durch die Luft.
    Â»Ich … habe … geschlafen.«
    Â»Dumme Schlampe!«
    Das Boot erzittert und beginnt zu schaukeln. Er schleppt eine
vollgestopfte Plane an und verstaut sie unten bei den anderen Vorräten.
    Â»Ich werde sie finden«, droht er. »Und wenn sie noch nicht tot ist,
bringe ich sie endgültig um.«

DREIUNDZWANZIG
    Kurz vor Sonnenuntergang kommt er wieder. Diesmal mit
Babysachen. Kleidung und Windeln und Creme gegen das Wundliegen. Alles Dinge,
an die ich bisher nicht dachte, weil ich voll und ganz damit beschäftigt war,
am Leben zu bleiben.
    Er hält ein Kleidchen hoch, gelb mit weißen Streublümchen. »Wie
gefällt dir das?«
    Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich kann mich nur abwenden.

    Er bringt mir Essen. Kaltes Dosenfleisch. Kaltes Gemüse,
ebenfalls aus Dosen, deren Etikette ich nicht lesen kann. Auf den klebrigen
Papierbanderolen sind Familien abgebildet, die so glücklich wirken, dass sie
nicht echt sein können. Wer lächelt denn so fröhlich? Niemand, den ich in
diesem neuen Leben kenne oder kannte. Ich kaue und schlucke und schlürfe
anschließend den Saft leer. Zum Nachtisch gibt es kleine, in Plastikfolie
verpackte Schokokuchen. Ich verschlinge sie gierig. Sogar die Folie lecke ich
ab. Es ist mir egal, was er von meinen Manieren hält. Als ich nur noch den
schwachen Nachgeschmack von Schokolade auf der Zunge spüre, frage ich ihn nach
Irini.
    Â»Hast du sie gefunden?«
    Â»Nein.«
    Â»Gut.«
    Â»Sie wurde wahrscheinlich von Tieren gefressen. Oder von Monstern.«
    Â»Oder ihr gelang die Flucht.«
    Â»Unwahrscheinlich«, sagt er. »Nicht mit dieser Wunde. Wie geht es
meinem Baby?«
    Â»Meinem Baby geht es gut.«
    Â»Darf ich?« Plötzlich ist er höflich. Er streckt die Hand aus, als
wollte er mich berühren.
    Â»Rühr uns an, und ich steche dich ab.« Kalt. Ruhig. Wahrheitsgetreu.
    Er lacht, als hätte ich einen Witz gemacht.
    Â»Ich dachte schon, dein Bauch sei leer wie bei dieser dummen
Kleinen.«
    Â»Wann brechen wir auf?«, frage ich.
    Â»Bald.«
    Â»Worauf wartest du denn?«
    Â»Auf mein Baby.«

    Ich werde nicht zulassen, dass er mir mein Baby wegnimmt. Auf
gar keinen Fall. Eher sterbe ich. Aber genau das will er. Ein Plan. Ich brauche
einen Plan. Ich muss weg von hier, jetzt, bevor es zu spät ist. Bevor ich tot
bin und mein Kind ihm gehört.
    Wo bist du, Nick? Warum kommst du nicht und
rettest uns, du Bastard? Ich habe es bis hierhergeschafft. Übernimm du den Rest
des Weges für uns. Bitte.
    Der Gedanke ist unfair, denn Nick kann nicht wissen, dass wir hier
sind. Aber er taucht ganz von selbst in meinem Kopf auf wie die Sprechblase in
einem Comic. Ich versuche ihn mit einem Spruch aus früheren Zeiten zu
bekämpfen. Es ist, wie es ist, sage ich mir vor. Und damit musst du dich
abfinden.
    Er verlässt das Boot im ersten Frühlicht. Zieht wieder los, um Dinge
für ein Kind zu besorgen, das nicht ihm gehört. Diesmal fesselt er mich an ein
Rohr, das die Tischplatte in der winzigen Kabine unter Deck stützt. Er leert
meinen Rucksack auf dem Teppich aus und entfernt alles, was ich als Waffe
benutzen könnte. Adieu, Nagelknipser und Pinzette sowie eine Nähnadel, die seit
mindestens zehn Jahren in einer Seitentasche vor sich hin rostet. Er sperrt die
Kabinentür zu. Ich weiß, dass er befürchtet, Irini könnte noch am

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