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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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ich in meinem Spind frische
Sachen vorfinden. Die Tasche über eine Schulter geschlungen, fahre ich mit dem
Aufzug in den zehnten Stock, wo sich die Sanitätsstation befindet.
    Halbjährliche Kontrolluntersuchung. Ein Bestandteil meines Vertrags.
Wenn kein Check-up, dann kein Job und keine Knete, ergo: kein College.
    Dr. Scott erwartet mich. Wir gehen das Programm durch, das ich vor
dem heutigen Tag bereits dreimal mitgemacht habe: Blutdruck, EKG, Wiegen. Er
zapft mir ein Röhrchen Blut ab und kommt dann mit einer Spritze. Auch nicht zum
ersten Mal.
    Â»Ist wieder mal fällig«, sagt er. »Anordnung von oben.«
    Er rollt meinen Ärmel hoch, bis mein Oberarm frei ist und desinfiziert
eine münzgroße Stelle. Die Nadel geht rein wie in Butter.
    Â»Halten Sie still«, sagt Dr. Scott rein mechanisch, obwohl ich wie
eine Statue dastehe.
    Der Schmerz ist eine Spinne, die ihre unendlich langen Beine
ausfährt.
    Â»Was zum Henker …« Ich muss mich gewaltig am Riemen reißen, um nicht
zusammenzuzucken. »Was ist das für ein Zeug? Flüssiges Feuer?«
    Â»Grippeimpfung. Halten Sie still. Ist gleich vorbei.« Er zieht die
Nadel heraus. »Fertig. Sie kennen die Prozedur.«
    Ich kenne die Prozedur. Eine halbe Stunde liegen bleiben, um
sicherzugehen, dass es zu keiner Reaktion kommt. Das Feuer brennt noch lange,
nachdem er die Nadel in den Sondermüll-Behälter geworfen hat.
    Â»Im Ernst, was war das?«
    Â»Grippeimpfung«, wiederholt er, als hätten sie ihn gezwungen, das
Wort auswendig zu lernen. »Die ist für alle Pflicht. Sie können jetzt gehen.«
    ZEIT: JETZT
    Ich atme stoßweise. Der Strick schneidet tief ein. Das
Hämmern in meiner Brust übertönt alle anderen Geräusche.
    Â»Lisa … wo ist sie?«, würge ich hervor.
    Das Seil ruckt, und meine Worte enden in einem Keuchen.
    Â» Ich stelle hier die Fragen.«
    Der Akzent ist weder amerikanisch noch britisch, aber es könnte
sein, dass der Wind die Weichheit der Vokale und die Härte der Konsonanten
verzerrt.
    Meine Hand tastet den Strick entlang, sucht nach einer Lücke, einer
Schwachstelle, die ich nutzen kann. Ich finde sie im Nacken. Offenbar hat er
mir die Schlinge übergestreift, ohne sie zu verdrillen, sodass Platz genug
bleibt, um zwei Finger durchzuschieben. Ich überlege, ob ich mich mit einem
Kopfstoß befreien soll, aber das hat wenig Zweck, da der Kerl den Mund dicht an
mein Ohr gepresst hat.
    Raue Fasern scheuern meine Fingerkuppen wund, brennen neue Riefen in
die alten Risse und Schnitte. Das Wetter macht alles noch schlimmer; der Wind
peitscht mir Staub in die Augen und reißt mir die Tränen von den Wimpern, ehe
sie die lästigen Körner wegspülen können.
    Â»Warum bist du nicht tot?«
    Â»Es gibt noch mehr Menschen, die überlebt haben.«
    Er schüttelt den Kopf dicht neben meinem Ohr. »Nicht ohne guten
Grund. Was hebt dich von den anderen ab? Bist du besonders wichtig?«
    Â»Ich bin ein Nichts.«
    Â»Du lügst.«
    Er könnte bewaffnet sein. Da er einen Strick besitzt, spricht einiges
dafür. Aber ich bin auch nicht völlig wehrlos. In meiner Tasche steckt, gut
verborgen zwischen den Säumen, ein Schälmesser. Einer von uns muss den anderen
überrumpeln, und nach Lage der Dinge – mit einem Strick um den Hals – sollte
ich das sein.
    Ich schließe die Augen, um die Staubkörner wegzublinzeln. Vielleicht
bilde ich mir das ein, aber der Wind scheint ein wenig nachzulassen, fast als
sei ihm die Puste ausgegangen.
    Â»Erklär es mir!«
    Â»Leck. Mich. Am. Arsch!«
    Ich reiße den linken Arm hoch und ramme ihm den Ellbogen in den
Magen. Er springt rechtzeitig zurück, sodass ich ihn nicht mit voller Wucht
treffe, aber selbst das verschafft mir einen Vorteil: Ein Teil des Stricks ist
ihm durch die Finger geglitten und hängt lose durch. Es gelingt mir, mich zur
Seite zu drehen und ihm den Rest zu entreißen.
    Es ist zu dunkel, um zu erkennen, wie ihm das Seil die Haut
aufscheuert, aber sein unterdrückter Aufschrei gibt mir genug Gewissheit.
    Â»Bist du wahnsinnig?«, faucht er, als er sich von seinem Schmerz
erholt hat. Er packt mich am Arm und zerrt mich die Stufen hoch, zurück in die
Hütte, die ich eben verlassen hatte.
    Â»Sprich!«
    Â»Wo ist Lisa?«
    Â»Tot.«
    Mein Herz ist ein Aufzug mit gerissenen Kabeln, der ungebremst in
die Tiefe rasselt.

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