White Horse
Meine Faust jagt durch das Dunkel und trifft auf etwas
Hartes. Vermutlich sein Gesicht. Seine flache Hand klatscht gegen meine Wange.
Meine Zähne knirschen. Ein Schluchzen bahnt sich seinen Weg durch den KloÃ, der
mir die Kehle zuschnürt.
»Du Bastard! Sie war doch noch ein halbes Kind.«
»Ein dummes Kind, das allein in der Finsternis umhertappte. Du
hättest sie besser erziehen sollen.«
»Sie ist nicht meine Tochter. Ein Mädchen, für das ich die
Verantwortung übernommen hatte.«
»Dann eben ein fremdes Mädchen. Das ändert nichts daran, dass sie
verdammt dumm war. Und jetzt tot ist.«
»Was hast du ihr angetan?«
Er schubst mich ans Fenster, deutet nach drauÃen. »Siehst du das Licht?«
Das Licht ist immer noch da. Beständig. Unverändert. »Ja, ich sehe
es.«
»Deine Freundin befindet sich dort. Oder das, was noch von ihr übrig
ist.«
»Ich will sie sehen.«
»Später. Zuerst beantwortest du meine Fragen.«
»Ich habe ebenfalls Fragen.«
»Du bist nicht in der Lage, Bedingungen zu stellen.«
Der Akzent. Ich kann ihn immer noch nicht einordnen. Irgendwie
klingt er europäisch. Ich tippe auf Deutschland, Ãsterreich, die Schweiz.
Lisa ist tot. Jetzt bin ich ganz allein. Allein mit diesem Kerl.
»Ich bin ein Nichts. Ich arbeitete als Putzfrau. In einer Firma für
Medikamente, wenn du es genau wissen willst.«
Sein Lachen klingt gepresst und bitter. »Eine Putzfrau. Du willst
mir allen Ernstes einreden, dass es eine Raumpflegerin bis hierhergeschafft
hat?«
»Warum nicht?«
»Du bist genauso dämlich wie deine Freundin. Komm mit!«
Als hätte ich eine andere Wahl. Er schlingt den Strick um meine
Handgelenke, sodass ich gezwungen bin, ihm die Stufen hinunter ins Freie zu
folgen. Der Wind ist abgeflaut. Es sieht immer noch nicht nach Regen aus. Die
Wolken verbreiten einen Hauch von Tod.
Seine Silhouette hebt sich schwach gegen das Dunkel ab. Er wirkt
eher drahtig als massiv. Etwa meine GröÃe â wenn ich hohe Absätze trage. Ich
kann ihn überwältigen. Wenn ich den richtigen Moment abwarte, kann ich ihn
überwältigen. Ich hoffe es zumindest. Um Lisas willen. Um meinetwillen. Denn
nichts wird mich daran hindern, ihren Tod zu rächen und dieses Boot zu
erreichen.
Tut mir leid, wispere ich und hoffe, dass
Lisa mir verzeiht.
»Ich werde dir etwas zeigen. Aber sei leise, sonst breche ich
dir den verdammten Hals. Nicke, wenn du verstanden hast.«
Ich zeige ihm, dass ich verstanden habe, obwohl ich in Wahrheit
unwissender bin als je zuvor.
Ein Steinkoloss kauert in einem Feld jenseits des Dorfes und starrt
bösartig ins Dunkel. Er ist ein Ãberbleibsel aus einer Welt, die ein anderes
Ende fand als die unsere.
Mein Bezwinger setzt jetzt einen Fuà vor den anderen und schleicht
geduckt durch das feuchte Gras. Er zerrt mich mit, und ich sehe keinen Grund,
mich dagegen zur Wehr zu setzen. Er besitzt das Wissen, das mir fehlt. Ich habe
nur eine Vorahnung, die mich vor Angst frösteln lässt.
Als wir das Fenster erreichen, scheucht er mich in die Schatten,
legt einen Finger auf die Lippen und schiebt das Gesicht nahe an die Scheibe
heran.
Ich will ebenfalls einen Blick nach drinnen werfen. Selbst wenn alle
Schrecken der Welt in dieser Scheune versammelt sind, ich muss hineinsehen.
Er spürt meinen verzweifelten Wunsch, der blonde Mann mit den hohen
Wangenknochen, die so scharf gemeiÃelt sind, dass sie an Messer erinnern, und
er gibt meinem Drängen nach.
Von dicken Balken baumeln Haken, die an spanische Fragezeichen
erinnern. Sie rahmen Fragen ein, auf die ich lieber keine Antwort wüsste. Aber
mir ist klar, was sie bedeuten. Mir ist klar, was in dieser Scheune vor sich
geht, auch wenn ich mich mit aller Macht gegen dieses Wissen sträube. Ich bin
ein Stadtkind, geboren und aufgewachsen in einer Umgebung, wo Fleisch mit Preiszetteln
und einer Dosis Kohlenmonoxid â der frischen Farbe wegen â versehen war. Hier dagegen
lief das Fleisch in Herden umher.
Es gibt Ãberlebende in diesem Dorf, und sie haben sich hier zusammengefunden,
etwa ein halbes Dutzend in ärmliche Lumpen gehüllte Gestalten. Mein Blick wandert
und tastet umher. Konzentriert sich. Zerlegt alles in Einzelheiten, die der
Verstand erfassen kann. Die Wohnhöhle, die sich diese Monster geschaffen haben.
Monster, die einmal Menschen waren. Knochen und rötlich
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