White Horse
schlucke.
»Hattest du wieder deinen Traum?«, fragt er.
»Was?«
Er tut nie den ersten Schritt. Aber jetzt ändert er sämtliche
Regeln. Der Notizblock liegt wieder auf seinem SchoÃ, und er hält den Stift
lässig in der Rechten. Das zumindest ist normal.
»Den Traum mit dem GefäÃ.«
»Ach so.« Das GefäÃ, das GefäÃ, das blödsinnige GefäÃ. Der Tumor in
meinem Leben. Das ist, als hätte ich Krebs und würde mir nun den Kopf darüber
zerbrechen, was ich falsch gemacht habe, um das Wachstum der kranken Zellen
anzuregen. War es die Butter? Die Margarine? Zu viel rotes Fleisch? Zu oft an
der Mikrowelle auf das Klingen der Zeitschaltuhr
gewartet? Was habe ich verbrochen, dass jemand sich genötigt fühlte, in meine
Wohnung einzubrechen und mir ein Rätsel aus grauer Vorzeit mitten ins Zimmer zu
stellen? Ich suche das Gerippe meines Lebens auf der Suche nach Hinweisen ab
und finde nichts.
»Ja«, sage ich nur.
Er wartet.
»Es hat immer noch die Farbe von Crème brulée.« Meine Hände
zerteilen dünne Luft und ergreifen unsichtbare Henkel. Halten inne und sinken
nach unten, massieren die Kniescheibe. »Wir machen das jede Woche, und nichts
ändert sich.«
»Hast du einen Blick auf die Unterseite geworfen?«
»Ja.«
»Und?«
»Woher immer es stammt â es wurde nicht in China hergestellt. So
viel weià ich jetzt.«
Wir lächeln uns verkrampft an.
»Was könnte sich deiner Ansicht nach im Innern befinden?«, erkundigt
er sich.
»Keine Ahnung. Höchstwahrscheinlich gar nichts.«
»Hast du dir nie Gedanken darüber gemacht?«
»Nein«, lüge ich.
»Aber etwas ist verändert: Diese Woche hast du einen Blick auf die
Unterseite geworfen. Der nächste Schritt wäre, dass du versuchst, mehr über den
Inhalt in Erfahrung zu bringen. Was hältst du davon?«
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. »Ja, warum nicht?«
ZEIT: JETZT
Die Morgendämmerung zeigt sich in dem gleichen grauen
Gewand, das sie dieser Tage immer trägt. Blautöne würden ihr besser stehen,
vielleicht auch Perlmutt, Pink und Pfirsich, weil irgendwo da drauÃen Frühling
herrscht â oder herrschen sollte. Als ich die Augen aufschlage, bemerke ich
erleichtert, dass die Morgenübelkeit ausgeblieben ist, und weniger erleichtert,
dass ein Hammer hinter meinen Schläfen einen irrwitzigen Morsecode schlägt.
Meine Muskeln verkrampfen sich, und ich gebe auf, bevor ich den Oberkörper
aufrichten kann.
»Aminosäuren.«
»Was?«
Mein Bezwinger kauert auf dem Boden und befestigt Drähte an einem
schwitzenden Plastiksprengstoff-Block, der nicht gröÃer als eine
Zigarettenschachtel ist.
»Du willst deine Freundin immer noch retten?«
»Ja.« Meine Stimme klingt rau.
»Nur zu.« Er sieht nicht auf.
»Was soll das mit Aminosäuren?«
»Sie sind die Bausteine des Lebens. In der richtigen Anordnung
ergeben sie Proteine. Die DNA besteht aus
Aminosäuren. Wahrscheinlich werden die Monster deine Freundin umbringen und
fressen. Menschenfleisch hat die Aminosäuren, die sie benötigen.«
»So ein Quatsch.«
»Hast du deine Tage?«
»Was?«
»Du bist schlecht gelaunt. Frauen sind oft schlecht gelaunt, wenn
sie ihre Tage haben. Liegt an den Hormonen.«
»Woher kommst du?«
»Aus der Schweiz.«
»Lernt man dort keine Manieren?«
Er beschäftigt sich weiter mit seinem Sprengstoff. »Dort lernt man
überhaupt nichts mehr. Mein Land ist vernichtet. Ebenso mein Volk.« Dieser Mann
besteht ganz und gar aus harten Kanten. Er ist eine Miniatur seines bergigen
Heimatlands â schroff, unnachgiebig, grausam.
Ich richte mich mühsam auf, nehme meinen Rucksack und trotte los.
Ich werde Lisa retten. Wenn ich das nicht schaffe, gibt es keine
Hoffnung für das Kind, das in mir heranwächst. Ich muss die Kraft haben, Mensch
zu bleiben.
ZEIT: DAMALS
Lilarot schmeichelt Stiffy nicht gerade. Aber Ben besteht
auf diesem knalligen Farbton.
»Das sticht ins Auge«, erläutert er.
Soll ich mich deswegen mit ihm streiten? Ich habe eine Schwäche für
das eigensinnige Tier mit seinem orangeroten Fell und der Ihr-könnt-mich-mal -Haltung.
Eine Rolle Klebeband landet auf dem Papierstapel.
»Du musst sie überall anbringen«, weist er mich an. »Notfalls
überklebst du einfach ältere
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