White Horse
Sessel fallen und starre den Krug an. »Tod«,
sage ich mit dumpfer Stimme.
Raoul wirft sich neben James auf die Couch. Wir sitzen da. Wir
lassen das Gefäà nicht aus den Augen.
ZEIT: JETZT
Das Dorf ist nicht auf der Karte verzeichnet, aber da
liegt es, links vom Weg, wie nachträglich eingefügt. Es besteht aus wenig mehr
als einer Handvoll Häuser, zumindest von unserem Blickwinkel aus betrachtet.
Vor uns steigt die StraÃe an, ein endloses graues Band, das sich durch die
Berge windet. Sie führt nach Südosten, auch wenn sie sich alle Mühe gibt, das
zu verbergen. Als ich Lisa von dem Dorf erzähle, verlangsamt sie ihre Schritte.
»Können wir dort eine Pause einlegen?«
»Nein. Ich muss bald in Brindisi sein.«
»Aber die haben sicher Betten. Richtige weiche Betten. Mit Kissen
und Decken.«
»Das schon.«
»Ha! Nichts wie hin!«
»Wenn du eine Decke schleppen willst, kannst du eine haben.«
»Aber ich will in einem Bett schlafen.«
»Wir können hier nicht anhalten. Das Risiko ist zu groÃ.«
»Weil du unbedingt dieses Boot erreichen und deinen Freund finden
musst. Woher weiÃt du, dass es überhaupt noch fährt? Und wahrscheinlich ist er
längst tot wie alle anderen.«
Ich würde sie am liebsten packen und schütteln â ihr sagen, dass ich
Angst vor diesem Verfolger habe, der vielleicht kein Mensch mehr ist. Dass das
Leid, das sie erlitten hat, ein schöner Traum gegen das sein könnte, was ihr
von einem Fremden droht. Aber ich schweige, weil sie noch zu jung ist. Ich will
ihr sagen, dass unsere einzige Rettung die Elpis ist.
Dass mich die Person, die ich dort treffen will, ganz bestimmt erwarten wird.
Aber wieder schweige ich, weil ich ein kaltes Kribbeln im Bauch spüre, das mir
verrät, sie könnte recht haben.
»Wenn wir uns hier aufhalten, sind wir morgen wahrscheinlich
ebenfalls tot.«
Das lässt sie verstummen.
Die Last der Schuldgefühle drückt noch ein wenig schwerer auf meine
Schultern, aber nicht schwer genug, um mich von meinem Entschluss abzubringen.
Wir sind im Freien einfach sicherer.
»Es liegt etwas ganz Merkwürdiges in der Luft«, sagt sie nach einer
Weile. »Was hat das zu bedeuten?«
Tatsächlich haben die Wolken das fahle Grün von Krankenhaus-Kitteln
angenommen.
»Hagel.«
»Ich will endlich wieder die Sonne spüren«, sagt Lisa. »Die kommt
auf meine Liste.«
»Auf meine ebenfalls.«
Die Wolken ballen sich zusammen und stoÃen auf uns herunter.
Der Hagel und die Orkanböen zwingen uns schlieÃlich doch in das
Dorf. Wir haben alle Mühe, das Fahrrad vor dem Umkippen zu bewahren, während
wir uns entlang der Bäume zu den Steinhütten durchkämpfen. Die StraÃe bietet so
gut wie keinen Schutz. Hier prasselt das Unwetter auf uns herunter, bis wir uns
kaum noch aufrecht halten können. Mein Körper schmerzt wie ein Boxsack, auf den
wütende Fäuste eindreschen. Der ungezähmte Sturm schleudert Ãste wie Geschosse
durch die Luft. Dieser Wind ist neu. Bitte, denke
ich. Bitte, lass ihn nicht zur Gewohnheit werden wie den Regen.
Wir bleiben nicht stehen, um unsere Ankunft kundzutun oder um unsere
Umgebung in Augenschein zu nehmen. Wir schleifen das Fahrrad die Eingangsstufen
der erstbesten Hütte nach oben. Ich schiebe Lisa mitsamt des Fahrrads nach drinnen,
ehe ich mich selbst in Sicherheit bringe.
Der Sturm verebbt, als ich die Tür hinter uns zuschlage, aber er
lauert drauÃen, klopft und kratzt und wirft ganze Fäuste voll Hagel gegen das
Holz. Kommt heraus, kommt heraus!, fordert er. Kommt heraus und spielt mit mir!
Lisa hat wild zerraufte Haare und gerötete Wangen. Ihre Haut ist von
Kratzern und Schnitten gezeichnet. Auch ich habe von umherfliegenden Trümmern
einiges abbekommen.
»Bist du okay?«
»Es geht. Und du?«
Ich stemme den Rücken gegen die Tür und lasse mich zu Boden gleiten,
bis mein Kinn die Knie berührt.
»Alles in Ordnung.« Ich schlieÃe einen Moment lang die Augen.
Als ich sie wieder öffne, ist es dunkel. Das Geprassel des
Hagels hat nachgelassen, aber der Wind versucht immer noch, das kleine
Backsteinhaus umzublasen, und er hat die Nacht zur Verstärkung mitgebracht. Ich
weià nicht, wie spät es ist. Das Licht reicht nicht aus, um einen Blick auf die
Armbanduhr zu werfen. Lediglich ein vager Schimmer ist durch die Wolken
gesickert
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