White Horse
und harrt nun jenseits der Fenster.
Bei all dem angestrengten Horchen dauert es ein paar Minuten, bis
ich begreife, dass Lisa nicht mehr da ist.
Ich halte bewusst die Luft an. Wenn ich meine eigenen Geräusche
ausblende, höre ich vielleicht die ihren. Menschen verhalten sich nie
vollkommen still. Sie schniefen, räuspern sich, rülpsen. Jede unbedachte
Bewegung verursacht Lärm. Stoff raschelt gegen Stoff oder verschwitzte Haut.
Atemzüge. Ich müsste zumindest Atemzüge hören, aber da ist nichts
auÃer Leere.
»Lisa?« Der Name fällt wie ein Eisklumpen in den Raum. Ich versuche
mich zu erinnern, wie das Innere dieser Hütte aussah, aber der Schlaf kam so
unvermittelt, dass ich mir die Umgebung nicht mehr einprägen konnte.
Noch einmal, etwas lauter: »Lisa?«
Das Nichts erstreckt sich in dieser dunklen Kammer bis zur Unendlichkeit.
Sie ist nicht hier. Zumindest nicht lebendig. Die Hütte ist so klein â daran
erinnere ich mich â, dass ich etwas hören müsste, wenn sie hier wäre.
Wie weit kann sie sich allein, nur mithilfe des Stocks, entfernt
haben? Ich hoffe, dass ich sie mit meiner Stimme erreiche.
Die Tür befindet sich hinter mir, und hinter ihr das Heulen des
Sturms. Ich stoÃe sie auf, schleudere ihren Namen in den Wind. In der Ferne
sehe ich einen goldenen Punkt, so klein, dass ich ihn mit den Händen umfassen
und verdecken kann. Eine Flamme? Eine Laterne? Es gibt seit mindestens drei
Monaten keine regelmäÃige Stromversorgung mehr â vielleicht länger oder, in
dieser Gegend, auch etwas kürzer â, also weià ich, dass es kein elektrisches
Licht sein kann. Fettige Haarsträhnen peitschen mir gegen Stirn und Wangen, bis
ich von den Hieben zusammenzucke.
Und dann sehe ich, dass es nicht mehr regnet. Es
regnet nicht mehr.
Ich gehe langsam die Stufen nach unten, mit hocherhobenem Kopf.
Immer noch verdeckt eine dicke Wolkenschicht die Sterne, aber es hat zu regnen
aufgehört. Zum ersten Mal, seit ich italienischen Boden betreten habe, hat es
zu regnen aufgehört. Ich will laut lachen. Ich spüre, wie sich mein Zwerchfell
anschickt, dieses Lachen auf die Reise zu schicken â¦
⦠und im gleichen Moment schnürt mir etwas die Kehle zu. Meine
Finger ertasten das, was mich umschlieÃt. Ein grobes Seil. Ich schnappe nach
Luft wie ein Fisch.
Eine Männerstimme an meinem Ohr. »Warum bist du nicht tot?« Die
Stimme ist kratzig wie ein mit Nägeln und Glasscherben gefüllter Sack. »Sag es
mir!«, schnarrt sie. Ein Ruck. Das Seil spannt sich an und scheuert meine Haut
wund. »Warum bist du nicht tot?«
FÃNF
ZEIT: DAMALS
Du darfst sie nie ins Herz schlieÃen, ermahne ich mich.
Labor-Mäuse haben keine Namen. Nur Nummern, nach Geburtsdatum und Geschlecht
geordnet. Mehr brauchen sie nicht. Wenn ich ihnen beim Bodenputzen ab und zu
eine Kusshand zuwerfe, ist das aber gerade noch vertretbar.
Die Labors von Pope Pharmaceuticals fallen in das Werbeklischee
WeiÃer-als-weiÃ. Sie enthalten das übliche Aufgebot an Maschinen â von denen
jede einzelne mehr kostet als ein Haus in Kalifornien â, dazu Reagenzgläser und
Petrischalen mit Agar. Ein Beutel Chips hebt sich grell wie eine Sonne gegen
den FuÃboden ab. Im Fernsehen sind Laborräume immer klinisch rein. In meiner
Wirklichkeit essen die Laboranten an ihren Schreibtischen und Computerplätzen.
Mich stört das nicht weiter. Ich putze hier, weil ich ein festes Ziel vor Augen
habe: Ich möchte studieren.
Ich wische gerade den Boden, als Jorge hereinkommt. Er ist ein Fettfleck
in einer ansonsten jetzt makellosen Umgebung.
»Du denkst an deinen Arzttermin, ja?«
»Aber sicher.«
»Gut. Ansonsten â¦Â« Er mimt einen Handkantenschlag, der eindeutig
darauf abzielt, mir den Hals zu brechen. »Soll ich dich hinbringen?« Er spielt
sich gern als mein Vorgesetzter auf. Und ich gebe ihm gern zu verstehen, dass
ich ihn für einen mehr als lästigen Kollegen halte. Einer von uns beiden hat
recht, und ich weià auch, wer das ist.
Der Putzwagen bleibt in der Türrille hängen. Ich versetze ihm einen
kräftigen Schubs.
»Danke. Das schaffe ich gerade noch allein.«
Ich begebe mich in die Frauen-Umkleide, ziehe meinen Schutzanzug aus
und werfe ihn in den Schacht, der, soweit ich weiÃ, direkt in die Wäscherei
führt. Wenn ich zur nächsten Schicht antrete, werde
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