White Horse
höchstens fünf
Minuten lang zu sein scheint. Eher kürzer.
»Diese dämliche kleine Engländerin hat sich selbst umgebracht. Mit
deiner Hilfe.«
»Wie meinst du das?« Meine Stimme klingt belegt, und ich verschleife
die Worte.
»Frag mich, was ich bei ihr gefunden habe!«
»Deine Spielchen nerven. Sag es mir einfach!«
Gleiten. Scharren. Metall auf Beton. Der Tod berührt mein Bein, und
ich zucke zusammen, aber schon greife ich nach dem Ding. Ich weiÃ, was es ist.
Ich weiÃ, was es ist, bevor meine Finger die engen Windungen entlangfahren, die
eine glatte, glänzende Spirale bilden. Kälte umfängt mich mit weit offenen
Armen. Komm mit, wispert sie. Ich
bringe dich an einen Ort, wo dich nichts mehr berühren kann. Wo du nie mehr
etwas fühlst. Wo wir alle tot und seelenlos sind.
»Du kennst diesen Korkenzieher, nicht wahr, Amerika?«
»Ja.«
»Woher? Erzähl!«
»Ich habe ihn ihr selbst gegeben. Für den Fall, dass sie sich zur
Wehr setzen müsste.«
»Du hast ihr damit die Möglichkeit verschafft, das vermeintliche
Leben in ihrem Bauch zu zerstören.« Er wirkt zufrieden. Scheint zu lächeln.
»Bist du jetzt geschockt?«
»Das Ding war in ihrem Bauch?«
»Nein. Sie hielt es wie etwas Kostbares umklammert, als ich sie
fand. Glücklich. Weil sie erreicht hatte, was sie wollte. Dieses dumme Mädchen!
Wenn du jetzt geschockt bist, hast du nicht mehr Verstand wie sie.«
»Ich konnte sie nicht retten. Ich kann nicht einmal mich selbst
retten. Ich bin keine Heldin.«
»Nein, das bist du nicht. Ich hätte sie
retten können. Ich bin der Held. Ich versuche die Welt von den Abscheulichkeiten zu befreien, die aus ihren Sünden
geboren sind.«
Ich stoÃe ein gurgelndes Gelächter aus. »Du?«
»Ich bin ein Held. Du bist nichts. Was versuchst du zu retten? Ein
albernes blindes Mädchen. Meine Ziele sind viel gröÃer. Wichtiger. Sie werden
der Welt nützen. Ich will die Monster töten, die der Mensch erschaffen hat.«
Mir fallen die Augen zu. Das Hier und Jetzt ist ein eingefettetes
Seil, das mir durch die Finger gleitet. »Dann müsste ich dir doch scheiÃegal
sein. Ich bin nur eine Putzfrau.«
»Falsch. Eine Putzfrau bei Pope Pharmaceuticals. Das bedeutet, dass
du für George Pope gearbeitet hast.«
VIERZEHN
ZEIT: DAMALS
Biep.
»Mom? Dad? Geht ran, wenn ihr daheim seid! Bitte.«
Pause.
»Jenny und mir geht es gut. Keine von uns ist krank geworden. Nur
damit ihr Bescheid wisst. Ihr fehlt mir ⦠uns sehr.«
Biep.
Ich fühle mich wie mitten im Winter, nur dass es nicht schneit.
Noch nicht. Die Luft ist weià Gott kalt genug, um Schneeflocken zu bilden. In
der Bibliothek brennen noch die Lichter, aber nicht mehr lange, wie mir ein
Blick auf meine Armbanduhr verrät. Ich kann nicht lange bleiben. Jenny hat sich
in meiner Wohnung verkrochen und löffelt einen halben Liter Eiscreme mit
Minzschokosplittern in sich hinein.
»Hatten sie sonst nichts?«, fragte sie, als ich triumphierend den
Karton schwenkte. »Ich wollte doch Rosinen in Rum oder Plätzchenteig.«
Das Eis hat mich zwanzig Dollar gekostet. Zwanzig. Das war alles,
was sie hatten. AuÃer der Hausmarke für zwölf Dollar. Aber die enthält mehr
Luft als Eiscreme.
Eine Woche ist seit Marks Tod vergangen, und wir müssen entdecken,
dass wir auch unsere Eltern verloren haben. Ich rufe immer wieder an. Niemand
hebt ab. Das Telefonnetz ist am Zusammenbrechen. Anrufe verhallen jetzt
häufiger im Nichts.
Ich komme immer noch täglich hierher â ohne Jenny. Ich suche nach
Nicks Namen und hoffe, dass ich ihn nicht finde. Für gewöhnlich besuche ich
diesen Ort direkt nach der Arbeit, aber heute bekam ich einen Anruf von Jenny.
Sie war in Tränen aufgelöst.
»Das ist alles so schrecklich«, rief sie mir entgegen, als ich die
Tür aufsperrte. Sie hatte den Fernseher an und guckte alte Folgen einer
Soap-Serie, weil nichts Neues mehr produziert wurde. »Er kam bei einem
Flugzeugabsturz ums Leben, bevor sie ihm sagen konnte, dass sie Zwillinge
erwartete.« Dann begann sie zu schluchzen. »Mark und ich hatten uns auch
vorgenommen, bald ein Baby zu kriegen. Dann musste er fort und starb, genau wie
Julian.«
»Wer ist Julian?«, wollte ich wissen.
Sie deutete auf den Bildschirm.
Also komme ich wegen einer Seifenoper zu spät in die
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