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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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Bibliothek.
    Die Chefbibliothekarin blickt auf, als ich den Saal betrete. Sie
entspricht dem Klischee ihres Berufsstandes bis hin zu der Brille, die sehr
gewagt auf ihrer Nasenspitze balanciert. Sie ist derzeit die einzige
Angestellte hier, abgesehen von einem jungen Doktoranden, der seinen
Bücherkarren durch die Gänge schiebt. Eigentlich müsste das Ding rattern – tut
es aber nicht. Die Räder sind so gut geschmiert, dass sie unterwürfig
schweigen. Die Dame deutet mit dem Kinn auf die runde Wanduhr aus Metall, um
mich daran zu erinnern, dass hier in Kürze geschlossen wird. Ich nicke ihr zu.
Ja, ich weiß Bescheid. Ungnädig wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
    Die Liste ist angeschlagen. Die Menschenmenge hat sich längst
aufgelöst, bis auf eine einsame Gestalt, die mit gespreizten Beinen dicht vor
der Wand steht. Mein Herz schlägt schneller. Ich kenne die Umrisse dieses
Körpers, habe sie oft über einen Kaffeetisch hinweg bewundert, sie in meinen
Träumen abgetastet. Er erscheint mir jetzt größer, aber vielleicht bilde ich
mir das ein, weil ich ihn eine Zeit lang nicht gesehen habe oder weil er in den
vergangenen Monaten in meinen Gedanken etwas beinahe Mythisches angenommen hat.
Etwas Überdimensionales im Vergleich zu meinem winzigen Ich.
    Dann dreht er sich um …
    Sein Gesicht ist Stein. Granit. Marmor. Gibt es noch etwas Härteres?
Wenn ja, dann ist es das, was ich sehe. Es muss Nick sein – aber nicht aus
Fleisch und Blut, sondern aus einer schroffen Felsenklippe gemeißelt.
    Â»Hallo, Zoe. Suchst du jemanden?«
    Dich. »Ja. Einen Freund.«
    Er nickt, wirft einen Blick über die Schulter und wendet sich wieder
mir zu. »Hoffentlich steht sein Name nicht auf dieser Liste.«
    Das ist alles, was er mir zu sagen hat? Ich fühle mich innerlich
taub.
    Â»Und wen vermisst du?«
    Ãœber die unsichtbare Wand hinweg: »Meinen Bruder. Theo.«
    Â»Ich hoffe, du hast ihn nicht gefunden.«
    Â»Alles Gute, Zoe.« Er geht, und ich schaue ihm stumm nach, mit
hilflos herunterhängenden Armen. Etwas an seinem Gang hat sich verändert. Er
scheint das rechte Bein ein wenig nachzuziehen. Was ist da passiert? Ich würde
es gern erfahren. Doch es ist zu spät. Er hat den Raum verlassen, und ich stehe
da wie festgenagelt, gefangen in einem meiner Albträume. Ich könnte ihn
zurückrufen, ihn ausfragen, aber auch meine Stimme verweigert den Dienst.
    Nick lebt. Das ist gut, nicht wahr? Das ist alles, was ich wissen
muss. Das ist alles, was ich in Erfahrung bringen wollte, oder? Ich wiederhole
die Worte: Nick lebt, und das ist das einzig Wichtige.
    Hinter mir räuspert sich missbilligend die Bibliothekarin. Das
kratzige Geräusch bricht den Bann, und ich trete hastig vor die Liste hin,
bevor die Dame mich vor die Tür setzt. Ich überfliege die Namen, suche
aufmerksam nach Nick, nur für den Fall, dass sein Erscheinen hier eine Art
Wahnvorstellung war. Aber nein, er steht nicht auf der Liste.
    Stattdessen entdecke ich einen anderen Namen: Theodore Rose.
    Ich renne ins Freie, in die Kälte, spähe verzweifelt nach allen
Seiten. Aber die Nacht hat alles bis auf die schwachen Lichttümpel der
Straßenlaternen verschluckt, und Nick ist für mich verloren.

    Biep.
    Â»Hallo? Mom? Dad?«
    Das Band surrt weiter.
    Biep.

    Der Empfang in der Eingangshalle von Pope
Pharmaceuticals ist nicht mehr besetzt. Kein Telefonklingeln, keine
Weitervermittlung von Verkaufsgesprächen, kein Kundenverkehr. Wenn es noch eine
Rezeptionistin gäbe, würde sie Kaffee trinken, in Zeitschriften blättern oder
sich die Nägel feilen.
    Ich fahre mit dem Aufzug in meine Etage. Stahlseile surren über die
Rollen, die Bremsen greifen mit einem harten Ruck, und die Kabine hält
knirschend an. Ich weiß erst, wie laut meine Welt ist, seit es kein
Menschengewusel mehr gibt, das vom Lärm ablenkt. Die Umkleiden stehen leer.
Jede Bewegung hallt laut wider, bis ich mir wie eine vielarmige Musikerin
vorkomme, die sämtliche Schlaginstrumente eines Sinfonieorchesters bedient. Ich
mache meine Arbeit wie an jedem Tag. Staubsaugen, wischen, Müll in die
vorgesehenen Schächte kippen. Manche führen zu einem fauchenden, rülpsenden
Verbrennungsofen im Keller. Andere münden in Kammern, zu denen ich keinen
Zutritt habe. Und während mich das früher völlig kaltließ, bereitet es mir
heute Kopfzerbrechen.
    Die

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