White Horse
richtigen Job. Dieser
Computerscheià ist doch nur was für Weicheier.« Und so singt er weiter, während
Jenny und ich ihn entsetzt anstarren. Mom dagegen wirkt nicht überrascht.
Unsere Blicke treffen sich, und ich lese müde Resignation in ihren
Augen. Sie weiÃ, dass Dad ernsthaft krank ist, aber sie unternimmt nichts.
»Machst du es ein wenig wärmer, ja?«, dröhnt Dad, und sie beeilt
sich, seinem Wunsch Folge zu leisten.
Ich bekomme kaum Luft. Die Hitze strahlt nicht nur von den
Heizkörpern, sondern von ihm selbst aus. In seinem Körper wütet ein Feuer. Ich
sehe fast, wie der Dampf aus seinen Poren dringt. Die Luft in seiner Nähe
beginnt zu flirren. Er ist eine Asphaltdecke im Hochsommer.
»Dad«, sage ich. »Das ist nicht â¦Â«
»Zoe!«, unterbricht mich Mom.
»Warum ist der Keller zugesperrt?«, frage ich sie.
Dad denkt nicht daran, seinen Redefluss zu bremsen.
»Er war nichts wert. Ich wollte nie, dass du ihn heiratest, wenn du
dich recht erinnerst. Jenny, habe ich gesagt â erinnerst du dich noch? â, bist
du sicher, dass du das nicht bereuen wirst? Du warst so jung, erst zweiundzwanzig,
ein Baby. Du sollst erst was erleben, habe ich gesagt. Was von der Welt sehen,
bevor du dich an einen Mann bindest. Glaub mir, es ist gut, dass Mark tot ist,
denn jetzt kannst du mal richtig einen draufmachen.«
Ich lasse nicht locker. »Was ist im Keller, Mom?«
»Nichts«, sagt sie. »Wir hatten Waschbären.«
»Blödsinn. Mitten in der Stadt gibt es keine Waschbären.«
Dad wirbelt herum. »Wie redest du mit deiner Mutter?«, brüllt er
mich an.
Ich weiche zurück. Die wenigen Male, die er mir gegenüber laut
geworden ist, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Er hat Mark
geliebt. Ihn wie einen Sohn behandelt. Das ist nicht mehr mein Vater.
»Es ist gut, dass er tot ist«, kreischt er Jenny entgegen. »Es ist
gut.«
Er kippt um und schlägt mit Armen und Beinen um sich. Ein
Krampfanfall. Wie bei James.
»Hol Eis«, herrsche ich meine Mutter an. Sie rennt los, in diesem
langen Nachthemd, eine Hand am Ausschnitt, um die Rüschen zusammenzuhalten,
aber nicht in Richtung Küche, wie ich es erwarte, sondern zum Keller. Jenny
sitzt reglos und mit weit aufgerissenen Augen auf der Couch. Erst ihr Mann,
jetzt ihr Vater. Ich schüttele sie sanft. Sie löst sich aus ihrer Erstarrung
und schaut mich an.
»Wähl den Notruf!«
Sie hastet zum Telefon, wählt, wartet. »Da geht niemand ran.« Keine
automatische Ansage. Nichts.
»Das gibt es doch gar nicht. Versuch es weiter!«
Mom kommt mit einem Plastikeimer ins Wohnzimmer gestürmt. Sie
schiebt mich zur Seite und kippt Dad den Inhalt auf die Brust. Eiswürfel.
Sobald sie seine Haut berühren, beginnen sie zu zischen. Dampf steigt auf und
hüllt ihn in eine dichte, feuchte Wolke. Eine Ein-Mann-Sauna. Mom nimmt Jenny
den Hörer aus der Hand und legt ihn sanft auf.
»Die kommen nicht. Das tun die nie. Die heben nicht mal mehr ab.«
Mein Vater beginnt zu stöhnen. Seine Lider zucken. Der Krampf lässt
nach, und die restlichen Eiswürfel schmelzen nicht mehr.
Jenny starrt ihn entsetzt an. »Was hat er denn?«
Ich schaue meine Mutter an. Lese die Resignation in ihrem Blick und
begreife das volle Ausmaà der Katastrophe.
»Musste er sich übergeben? Und du? Musstest du dich übergeben?«
»Ja«, wispert sie. »Ihr Mädchen müsst weg von hier. Mehr kann ich
nicht mehr für euch tun.« Sie küsst meine Schwester auf die Stirn. »Das mit
Mark tut mir leid. Wir haben ihn beide sehr gern gehabt. Auch Dad, glaub es
mir.«
Ich kann sie nicht verlassen, ohne mir Gewissheit zu verschaffen.
»Was befindet sich im Keller?«
Sie senkt die Stimme, damit Jenny sie nicht hören kann. »Dorthin
werden wir uns zurückziehen. Wenn es zu spät ist. Wir haben uns mit einigen der
Nachbarn abgesprochen, dass wir es gegenseitig übernehmen, uns zu ⦠zu helfen.«
Ich drücke erst sie und dann meinen Vater fest an mich und sage
ihnen, dass ich sie liebe.
Am liebsten würde ich nach oben in mein altes Zimmer flüchten,
anstatt hinaus in die Kälte, mit meiner unglücklichen, schwer geschockten
Schwester im Schlepptau. In mein altes Zimmer, wo die Kissen und Decken mich
mit magischen Kräften vor dem Schwarzen Mann beschützen. In eine Zeit, da
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