White Horse
jetzt in den Sinn kommt. Heim. Als ich in die Auffahrt unseres Hauses einbiege,
fällt mir erst mal gar nicht auf, wie schäbig der Rasen aussieht und wie
verwahrlost der Garten ist, den meine Eltern immer mit so viel Liebe gepflegt
haben. Nichts ist mehr normal, und deshalb erstaunen mich ungewöhnliche Dinge
längst nicht mehr so wie früher. Es dauert lange, bis unsere Mutter an die Tür
kommt.
Wir sind ihr so ähnlich, dieser Frau, nur dreiÃig Jahre jünger.
Trauer, Entschlossenheit und Ãberraschung spiegelt sich auf ihren und unseren
Zügen.
»Was gibt es?«, fragt sie, aber die Antwort ist ihr klar, noch ehe
sie die Frage richtig ausgesprochen hat. Sie presst eine Hand an die Brust.
»Mark, nicht wahr? Ach, du meine Güte.« Sie trägt ein bodenlanges Nachthemd,
eines dieser Gewänder, die mein Vater immer lachend als »SpaÃverderber«
bezeichnet hat. Als sie die Tür hinter uns schlieÃt, bekommen wir kaum noch
Luft. Die Räume sind völlig überhitzt. Es muss hier drinnen an die dreiÃig Grad
haben. Mindestens.
»Mom, ist bei euch alles in Ordnung?«
»Doch, doch«, versichert sie, und ich weiÃ, dass sie damit genau das
Gegenteil meint. Dann übernimmt sie die Regie. Sie tut, was Mütter immer tun,
führt Jenny zu dem Sofa mit dem Rosenmuster, drückt sie in die Kissen, nimmt
sie in die Arme und wiegt sie wie ein kleines Kind.
Jenny braucht ihre Mutter jetzt. Nein, Jenny braucht Mark, aber der
kann nicht bei ihr sein. Er wird nie mehr bei ihr sein. Wir sind alle nur
Marionetten, geführt von einer unsichtbaren Hand, die uns zum Tanzen und zum
Weiterleben zwingt. Wenn diese Hand loslässt, sacken wir in uns zusammen, und
alles ist aus.
Ich gehe in die Küche, schalte den Wasserkocher ein und begebe mich
auf die Suche nach Dad. Vergeblich wandere ich durch sämtliche Zimmer. Ich sehe
in der Garage nach. Dort ist alles wie immer. In der Mitte des Raumes befindet
sich ein groÃer Tisch mit einer halb fertigen Bastelarbeit. Den Holzteilen nach
zu schlieÃen, entsteht hier ein Uhrengehäuse.
Dann mache ich mich auf den Weg in den Keller. Das ist gar nicht so
einfach. Wir haben keine Tür im Flur, hinter der eine wacklige, nur von einer
nackten Glühbirne beleuchtete Stiege in die Tiefe führt. Zu unserem Keller
gelangt man durch einen Schrank im Bad. In seinen Boden ist eine Falltür mit
einer ausklappbaren Leiter eingelassen. Sie steht offen, wenn wir nicht gerade
Besuch erwarten. Die Vorstellung, dass von da unten ein Kopf auftaucht, während
man gerade eine Zeitschrift aus dem Regal neben der Toilette fischt, ist nicht
gerade angenehm.
Heute ist die Falltür zu. Aber das ist es nicht, was mich beunruhigt.
Was mein Herz so laut schlagen lässt, dass es die sanften Worte meiner Mutter
im Wohnzimmer übertönt, ist der neue Messingriegel, der die Holzklappe von
auÃen verschlieÃt. Die Scharniere sind ebenfalls neu. Sie bestehen aus dem
gleichen glänzenden Metall wie der Bolzen. Das sollte mich nicht weiter stören,
auÃer dass die Falltür früher einfach bündig auflag, während jetzt Scharniere
in perfekten rechten Winkeln darauf prangen. AuÃen.
»Hiya, Pumpernickel!«
Mein Verstand nimmt Abschied vom Körper, geht fast bis an die Decke
und schlittert langsam wieder runter, sozusagen auf einer spirituellen Bananenschale.
Mein Vater ist hier neben mir, nicht unten im Keller, eingesperrt wie â ein Monster â ein Gefangener. Und er sieht gesund aus.
Seine Augen glänzen, als könnte er es nicht erwarten, seine Witze loszuwerden.
»Ich habe mir vor Schreck fast in die Hose gemacht, Dad.«
»Dann bist du ja am richtigen Ort.«
Wir umarmen uns.
»Was ist mit deiner Schwester los?«, raunt er in meine Haare.
Meine Augen füllen sich sofort mit Tränen.
»Mark.« Seine Stimme klingt viel zu fröhlich für dieses Gespräch.
Er marschiert ins Wohnzimmer und zieht mich mit, obwohl ich lieber
nicht hören mag, was als Nächstes kommt, denn ich weiÃ, dass irgendetwas nicht
stimmt. Dad sieht nicht nur groÃartig aus, er sieht jung aus. Er ist zehn Jahre älter als Mom, aber jetzt wirkt er fünfzehn Jahre
jünger.
»Jenny, mein Kleines!«, sagt er. »Komm, das feiern wir! Er war
einfach nicht gut genug für dich. Jetzt hat es ihn also erwischt. Na und? Du findest
leicht einen Besseren. Einen Kerl mit einem
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