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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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älteren, vertrauten und vor allem ästhetischen Örtlichkeiten hinge- zogen gefühlt. Ihr Stadthaus in Manhattan war einhundertfünfzehn Jahre alt; wenn sie reiste, mietete sie sich regelmäßig in altehrwürdi- gen, ihr bekannten Hotels ein. Sie fand sich in der Welt der Menschen bestens zurecht, aber einen Ort wie diesen hatte sie noch nie gese- hen, und sie hätte sich nie träumen lassen, dass die verborgenen Teile der menschlichen Welt derart mechanisch waren.
    Vor ihr entdeckte sie einen Durchgang. Der Boden war dunkel und wurde von gelben und weißen Linien markiert. Der Gang stieg in einer lang gezogenen Rechtskurve an, schien von der Ankunftshalle fortzu- führen – also folgte sie ihm. An der Decke hängende Neonröhren sorg- ten für spärliche Beleuchtung; einige flackerten, andere waren bereits durchgebrannt. Der Effekt war unheimlich und wirkte durch ein hohes kreischendes Geräusch in der Ferne noch unheimlicher. Sie blieb ste-

hen und lauschte, konnte aber nicht sagen, was für ein Geräusch es war.
    Je weiter sie ging, desto lauter wurde das Geräusch. Sie blieb erneut stehen. Das Geräusch schwoll an und verebbte, dann schwoll es wie- der an. Plötzlich wurde es fast ganz still. Sie ging weiter an der endlo- sen geschwärzten Wand entlang, über ihr die flackernden Neonröhren. Plötzlich brüllte ihr das Geräusch mitten ins Gesicht, und ihr gesam- tes Sichtfeld füllte sich mit gleißender Helligkeit. Eine Hupe ertönte. Es war nicht genügend Platz, um sich hinzuwerfen, denn die auf sie zukommende Maschine bewegte sich dicht über dem Boden. Sie schaute an die Decke – und bemerkte die Metallfassung einer Neon- röhre, an der sie sich hochziehen konnte. Sie sprang, verfehlte die Fassung jedoch um einen halben Zentimeter. Die Maschine raste auf sie zu, die Scheinwerfer wurden immer größer; das gleißende Licht blendete sie und strahlte sie an, als wäre sie ein in die Enge getriebe- nes Tier. Die Hupe tönte ununterbrochen. Sie warf sich auf den Boden. Wie die meisten Tiere besaßen auch Hüter eine reflektierende Netz- haut. Hätte sie direkt in die Scheinwerfer geblickt, hätte der Fahrer der Maschine ein Funkeln in ihren Augen gesehen – wie in den Augen ei- nes Rehs oder einer Raubkatze. Dem Menschen war die Nachtsicht durch Züchtung genommen worden. Er sollte nachts lieber schlafen und die Hüter ungestört jagen und sich um ihre Herden kümmern las- sen.
    Ihr blieben nur noch Sekunden. Die Maschine würde sie in Stücke reißen. Sie würde sterben – tatsächlich sterben. Die Angst davor hatte sie ihr ganzes Leben lang verfolgt. Sie glaubte nicht, dass Hüter im Gedächtnis der Natur fortdauerten. Sie wollte nicht aufhören zu existie- ren.
    Sie sprang auf und versuchte erneut, die Röhrenfassung zu erwi- schen. Dieses Mal gelang es ihr. Sie zog sich hoch, ließ den Oberkör- per nach vorne fallen, schlang die Beine um die Längsseiten der Fas- sung und presste sich mit dem Rücken an die Decke.
    Die kreischende Maschine schoss mit einem heißen Luftzug unter ihr vorbei, kaum zwei Zentimeter unter ihren Brüsten. Es schien ewig zu dauern, und sie merkte, dass ihre Finger und Zehen langsam den Halt verloren.
    Dann war die Maschine verschwunden, und statt auf ihr Dach fiel sie auf den Boden des Ganges, bei dem es sich um eine unterirdische Straße handelte, wie sie jetzt begriff. Würde eine weitere Maschine

kommen? Natürlich. Hatte der Fahrer sie gesehen und ihren Verfol- gern über Funk ihre Position übermittelt? Natürlich.
    Sie wusste jetzt, dass sie tatsächlich in höchster Gefahr schwebte. Der Mensch hatte sich verändert. Er handelte heute deutlich effizienter und effektiver. Sie erinnerte sich an das Paris vor fünfzig Jahren, als es noch eine kompakte, überschaubare Stadt gewesen war, in der es einige langsame Automobile und Scharen von Fahrrädern gegeben hatte. Nur die Métro war so schnell gewesen wie dieses Ding gerade. Aber sie war auf Schienen gefahren.
    Vor ihr schwoll erneut ein grelles Kreischgeräusch an. Die nächste Maschine war unterwegs. In etwa zweihundert Metern Entfernung sah sie eine in die Wand eingelassene Leiter, die vermutlich zu einem Wartungseinstieg hochführte.
    Die Maschine kam näher, wurde lauter. Ein warmer Wind blies ihr im- mer stärker ins Gesicht. Dies musste ein unterirdisches Zubringersys- tem sein, das nur dem Flughafen diente. Aber wie konnte das sein? Sie erinnerte sich doch, dass Paris nur ein kleines, wenn auch ge- schäftiges

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