Whitley Strieber
dass sie ihre Froschschenkel bekamen, wann immer ihnen der Sinn danach stand.
Das Telefon machte brrt-brrt-brrt-brrt. Netter Klingelton, dachte er. »Ja?«
»Wir haben drei mögliche Vampir-Verstecke geortet. Im 9. und 13. Arrondissement.«
»Becky?«
»Ja, Boss?«
»Wo steckst du?«
»Im Zentralarchiv der Polizeipräfektur.«
»Täusche ich mich, oder ist es gerade sechs Uhr fünfzehn am Mor- gen?«
»Mist, die machen in einer Stunde auf. Wir müssen verschwinden.« »Wie zum Teufel seid ihr dort reingekommen?«
»Es gibt unzählige Dachfenster in dieser Stadt.«
6
Martin Soule
Miriam hatte geschrien und geweint, und nun saß sie in einem kleinen Café und suchte unter Zeitdruck ein Opfer für Martin. Sie hatte immer wieder versucht, Sarah zu erreichen, jedoch keine Antwort erhalten. Trotzdem durfte sie nicht zulassen, dass sich dieses zunehmend be- unruhigende Problem auf ihre Jagd auswirkte. Sie wusste nicht genau, was mit Martin los war, außer dass er verhungerte, und es war das Entsetzlichste, was sie je gesehen hatte.
Beim Jagen war es außerordentlich wichtig, geduldig zu sein, ganz gleich, wie sehr die Zeit drängte. Das Schwierige war, dass man seine Beute grundsätzlich nicht für gefährlich hielt, und in einem Notfall wie diesem wollte man nur instinktiv jemanden packen, ihn an den Haaren davonschleifen und möglichst schnell dem Verhungernden geben. Sie zwang sich, stillzusitzen und einladend zu wirken. Der Kellner warf ihr bewundernde Blicke zu, genau wie einige männliche Gäste. Doch niemand rührte sich, niemand tat etwas.
Sie zog an ihrer Zigarette, saugte den warmen Rauch tief in ihre Lun- gen und ließ ihn durch verführerisch gespitzte Lippen ausströmen. We- nigstens gab es hier gute Zigaretten. Diese Gitane erinnerte sie an Bon-Tons. Amerikanische Zigaretten schmeckten heutzutage fürchter- lich.
Weshalb beachteten diese blöden Männer sie nicht? Hatten sich die Sitten dermaßen geändert? Als sie das letzte Mal in Europa Beute ge- rissen hatte, war alles ganz anders gewesen. Es war sofort zu einem Flirt und einer schnellen Verführung gekommen. Es war an einem ruhi- gen Tag in Clichy gewesen, in einer Bar voller Trunkenbolde und Ame- rikaner.
Sie fing die Blicke mehrerer Männer auf, aber mehr als einen flüchti- gen Augenkontakt wagten die Kerle nicht. Sie hatte nicht vor, Martin – oder irgendeinen anderen Hüter, dem sie helfen konnte – verhungern zu lassen. Wie er in diese Lage geraten war, wusste sie noch nicht. Aber sie konnte es sich denken – irgendwie musste es mit dem Feld- zug der Menschen gegen die Hüter zusammenhängen. Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und blies den Rauch kraftvoll durch die Nase aus.
Die Versuchung wurde immer größer, einfach auf die Straße zu ge- hen und das zu tun, was ihr Instinkt verlangte. Für viele Hüter war die Mahlzeit immer dann am schmackhaftesten, wenn sie einem plötzli- chen, spontanen Impuls folgten und einfach ein Opfer von der Straße auflasen, ihm den Kopf abrissen und aus seinem offenen Hals tranken. Auch sie hatte immer diesen Instinkt gehabt. Deswegen hatte sie sich anfänglich so nach Amerika hingezogen gefühlt, denn ihrer Rasse hatte sich dort ein äußerst bequemes, sorgloses Leben geboten. Sie hatte sich durch den ganzen Wilden Westen geschlürft. Man musste nur ein paar Meilen reiten und konnte unterwegs bedenkenlos seine Opfer auflesen. Es war an der Tagesordnung gewesen, dass Leute dort spurlos verschwanden.
Sie hatte ihre Zigarette ausgedrückt und war im Begriff, sich eine neue anzuzünden, als sie sah, dass ein Mann auf sie zukam. Sie sagte auf Französisch: »Entschuldigen Sie, würden Sie mir bitte eine Flamme reichen?«
Er ging, ohne sie zu beachten, zur Herrentoilette weiter. Konnte es sein, dass dies eine Homo-Bar war? Nein. Eindeutig nicht. Als Besitze- rin eines New Yorker Nachtclubs konnte sie sofort erkennen, welche sexuelle Orientierung in einem öffentlichen Etablissement vor- herrschte.
Ein am Nebentisch sitzender Mann sagte zu ihr: »Meine Dame, Sie sprechen das Französisch des Voltaire. Ihre Aussprache und Wort- wahl sind äußerst altmodisch.« Er hob die Stimme und imitierte sie: »‘Würden Sie mir bitte eine Flamme reichen?’ Heute sagen wir ‘Feuer’. Würden Sie mir bitte Feuer geben. Ein neuer Ausdruck! Woher kom- men Sie?«
»Aus der Vergangenheit«, antwortete sie schnippisch. Sie stand auf. Zum Teufel mit den Franzosen, wenn sie nicht mal mehr an einer
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