Wicked - Die Hexen von Oz
Elphaba hatte eine passable Stimme. Er sah den imaginären Ort, den sie beschwor, ein Land, in dem Ungerechtigkeit und allgemeine Grausamkeit und despotische Herrschaft und die harte Faust der Dürre nicht in unheiliger Allianz die Bevölkerung niederdrückten. Nein, sein Urteil war nicht gerecht: Elphaba hatte eine gute Stimme. Sie war kontrolliert und gefühlvoll und nicht theatralisch. Er lauschte konzentriert bis zum Ende, und das Lied klang im respektvollen Schweigen der ganzen Wirtschaft aus. Später dachte er: Die Melodie ist entschwunden wie ein Regenbogen nach dem Gewitter oder wie ein nach langem Wehen abflauender Wind, und zurückgeblieben ist Ruhe und Offenheit und Wohlgefühl.
»Jetzt du, du hast es versprochen«, rief Elphaba und deutete auf Fiyero, doch keiner wollte mehr folgen, weil sie so schön gesungen hatte. Nessarose bat Ãmmchen mit einem Nicken, ihr eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen.
»Elphaba behauptet zwar, dass sie mit Religion nichts zu tun hat, aber seht nur, wie tiefempfunden sie vom künftigen Leben singt«, sagte Nessarose, und dieses eine Mal verspürte niemand den Drang, ihr zu widersprechen.
5
Eines Morgens früh, als die Welt von Rauhreif versilbert war, kam Grommetik mit einer Mitteilung für Glinda. Anscheinend lag Muhme Schnapp im Sterben. Glinda und ihre Mitbewohnerinnen eilten auf die Krankenstation.
Dort empfing sie die Rektorin und führte sie in eine fensterloseNische. Muhme Schnapp warf sich im Bett hin und her und redete mit dem Kissenbezug. »Du darfst mich nicht einfach ertragen!«, sagte sie gerade heftig. »Was tue ich denn für dich? Ich nutze nur deine Uneigennützigkeit aus, du Guter, und lege meine fettigen Locken auf deinem feingewebten Stoff ab und reiÃe mit den Zähnen an deiner Spitzenbordüre. Es ist eine Riesendummheit von dir, das zuzulassen, finde ich. Diese ganzen Ideen vom Dienen sind alle Quatsch, sage ich dir, Quatsch und Aberquatsch!«
»Muhme Schnapp, Muhme Schnapp, ich binâs«, sagte Glinda. »Hör doch, meine Gute, ich binâs! Deine kleine Galinda!«
Muhme Schnapp wälzte den Kopf hin und her. »Mit deinen Einwänden beleidigst du deine Vorfahren«, fuhr sie fort und verdrehte wieder die Augen nach dem Kissenbezug. »Die Baumwollpflanzen an den Ufern des Rastensees haben sich nicht deswegen ernten lassen, damit du dich wie ein FuÃabtreter hinlegst und jedem Schmutzfinken gestattest, dich nachts mit Spucke vollzusabbern. Das ist doch aberwitzig!«
»Muhme!« Glinda weinte. »Bitte! Du redest irre!«
»Aha, darauf weiÃt du nichts mehr zu sagen«, stellte Muhme Schnapp befriedigt fest.
»Komm zu dir, Muhme, komm noch einmal zu dir, bevor du uns verlässt!«
»O du liebe Lurlina, ist das schrecklich«, sagte Ãmmchen. »Kinder, wenn ich jemals so werde, seid so gut und vergiftet mich, ja?«
»Sie stirbt, das sehe ich«, sagte Elphaba. »In Quadlingen habe ich das oft miterlebt, ich kenne die Zeichen. Glinda, sag, was du zu sagen hast, rasch.«
»Madame Akaber, dürfte ich bitten, dass Sie sich zurückziehen?«, sagte Glinda.
»Ich werde an Ihrer Seite bleiben und Sie stützen. Das bin ich meinen Mädchen schuldig«, sagte die Rektorin und stemmte die schinkenartigen Hände entschlossen in die Hüften. Aber Elphaba und Ãmmchen standen auf und bugsierten sie an den Ellbogen aus der Nische, durch den Flur und zur Tür hinaus. Dabei schnalzte Ãmmchendie ganze Zeit mit der Zunge und sagte: »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Frau Rektorin, doch das muss nicht sein. Ganz und gar nicht.« Sie schlossen die Tür hinter sich ab.
Glinda nahm Muhme Schnapps Hand. WeiÃe SchweiÃperlen bildeten sich auf der Stirn der Dienerin wie Kartoffelwasser. Sie strengte sich an, die Hand wegzuziehen, doch ihre Kräfte verlieÃen sie. »Muhme Schnapp, du stirbst«, sagte Glinda, »und ich bin schuld daran.«
»Lass das«, sagte Elphaba.
»Es stimmt aber«, sagte Glinda heftig. »Es stimmt.«
»Dem will ich gar nicht widersprechen«, entgegnete Elphaba. »Ich will nur nicht, dass du dich zum Mittelpunkt machst. Das ist ihr Tod, nicht deine Beichte vor dem Namenlosen Gott. Los. Sag etwas!«
Glinda fasste jetzt beide Hände, hielt sie noch fester. »Ich werde dich zurückhexen«, stieà sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
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