Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
stehen und beobachtete voller Grauen, wie die Kugeln altes, verwittertes Holz zerfetzten und sich in Glenns ungeschützten Leib bohrten. Sein Körper zuckte und wurde hin und her gerissen. Dicke Blutflecken bildeten sich auf der Brust und an den Beinen.
Der rothaarige Mann erschlaffte und sank zur Seite.
Dann fiel er in die Schlucht.
Die nächsten Sekunden waren für Magda wie ein Alptraum. Sie stand starr vor der Brücke, noch immer geblendet von den Blitzen, die aus den Waffenläufen zuckten. Zuerst erschien ihr alles unwirklich, doch dann traf sie wie ein Keulenschlag die furchtbare Erkenntnis, daß Glenn tot sein mußte .
Nein! gellten ihre Gedanken. Neeeiiin!
Sie brachte keinen einzigen Ton hervor.
Die Soldaten standen am Geländer und richteten ihre Taschenlampen nach unten. Magda überwand die Starre und ging langsam an den Rand der Brücke. Nur mit Mühe widerstand sie der Versuchung, in den wogenden Nebel zu springen und Glenn in die Tiefe zu folgen. Statt dessen gab sie einem plötzlichen Impuls nach, wandte sich der ersten schwarzgekleideten Gestalt zu und hieb mit den Fäusten auf Gesicht und Brust ein. Der Mann reagierte wie beiläufig. Ein dünnes, spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihr den kurzen Lauf der Maschinenpistole an die Schläfe schmetterte.
Magda sank zu Boden, und vor ihren Augen drehte sich alles. Irgend etwas preßte ihr die Luft aus den Lungen. Die Stimme ihres Vaters hörte sie nur noch wie aus weiter Ferne. Er rief ihren Namen. Dunkelheit wogte heran, aber Magda widersetzte sich der Ohnmacht und sah noch, daß ihr Vater über die Brücke zur Feste gerollt wurde.
»Es wird alles gut!« rief er ihr zu. »Glaub mir, Tochter, bald wirst du mich verstehen! Und mir danken ! Bitte haß mich nicht, Magda!«
Die junge Frau empfand nur noch Zorn, und bevor sich ihre Gedanken in der Schwärze verloren, schwor sie, den Mann im Rollstuhl für den Rest ihres Lebens zu hassen.
Ein Fremder, der sich der Verhaftung widersetzt hatte, sei erschossen worden und war in die Schlucht gestürzt. Wörmann sah die grimmig-zufriedenen Mienen der SS-Soldaten, als sie ins Kastell zurückkehrten, und bemerkte die Betroffenheit in den Zügen des Professors. Beide Reaktionen waren verständlich. Die Angehörigen der Einsatzgruppen hatten einen Unbewaffneten getötet – auf so etwas verstanden sie sich. Und Theodor Cuza hatte zum erstenmal in seinem Leben sinnloses Morden erlebt.
Doch Kämpffers enttäuschter Ärger überraschte den Wehrmacht-Major.
»Ein Mann? Eine wilde Schießerei, obwohl es nur um ei nen einzelnen Mann ging?«
»Meine Leute sind ziemlich nervös«, erwiderte der Sturmbannführer. »Der Kerl hätte nicht versuchen sollen, uns zu entkommen.«
»Was wollten Sie von ihm?«
»Der Jude glaubte, daß er etwas über die Feste weiß.«
»Ich nehme an, Sie haben ihm nicht gesagt, daß er nur ei nige Fragen beantworten sollte, oder?«
»Er versuchte zu fliehen!«
»Und das Ergebnis besteht darin, daß Sie jetzt nichts mehr erfahren werden. Wahrscheinlich geriet der arme Mann in Panik. Natürlich unternahm er einen Fluchtversuch! Das ist nur zu verständlich! Jetzt gibt es niemanden mehr, dem Sie irgendwelche Fragen stellen können! Außerordentlich klug von Ihnen! Eine Meisterleistung des Intellekts!«
Kämpffer drehte sich wortlos um und zog sich in sein Quartier zurück. Wörmann blieb allein auf dem Hof und wunderte sich darüber, daß er überhaupt keinen Zorn empfand. Normalerweise brachte ihn allein die Anwesenheit des Sturmbannführers in Rage, doch jetzt herrschten in seinem Innern nur Enttäuschung und tiefe Niedergeschlagenheit.
Stumm beobachtete er, wie die dienstfreien Männer in den Korridoren verschwanden, die zu den improvisierten Mannschaftsquartieren führten. Er hatte sie auf die Gefechtsstationen beordert, als im Bereich der Brücke die ersten Schüsse fielen. Doch es war nicht zu einem Kampf gekommen, und das hatte ihnen die Stimmung verdorben. Sie sehnten sich danach, endlich einem Gegner aus Fleisch und Blut gegenüberzutreten, doch der Feind war nach wie vor ohne Substanz. Ein Phantom.
Wörmann wandte sich der Kellertreppe zu. Er wollte das Gewölbe noch ein letztes Mal aufsuchen. Allein.
Er konnte niemanden auffordern, ihn zu begleiten, und durfte niemandem sagen, was er schon seit Stunden ahnte. Dann glauben Kämpffer und die anderen vielleicht, es gäbe ganz andere Gründe für meine Entscheidung, den Dienst zu quittieren. Ja, er hatte sich
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