Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
hinreißen ließ, brachte nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch andere. Die junge Frau rief sich zur Ordnung. Wenn es ihr gelang, die erste Etage des Turms zu erreichen, konnte sie ihrem Vater wenigstens moralische Unterstützung gewähren. Er war allein, so allein …
Sie blickte zurück und überlegte, ob sie den Zugang wieder schließen sollte, entschied sich aber dagegen. Es beruhigte sie zu wissen, daß sie jederzeit wieder nach draußen gelangen konnte.
Magda schaltete die Taschenlampe ein, und das Licht glitt über die untersten Stufen einer langen steinernen Treppe, die sich in einer engen Spirale nach oben wand.
Leise begann sie mit dem Aufstieg und prüfte jede einzelne Stufe im Schein der Lampe, bevor sie den Fuß darauf setzte. Gespenstische Stille herrschte.
Kurze Zeit darauf spürte sie einen Luftzug auf der rechten Seite. Und sie hörte ein seltsames Geräusch.
Die junge Frau erstarrte förmlich und lauschte einem leisen Kratzen. Es klang wie aus weiter Ferne und wiederholte sich in unregelmäßigen Abständen. Als sie die Taschenlampe drehte, fiel ihr Blick auf eine schmale, knapp zwei Meter hohe Öffnung im Gestein. Zögernd schob sie sich näher und spähte in die Dunkelheit; sie hoffte, daß ihr die Ursache des Kratzens verborgen blieb.
Bitte, Gott, laß es keine Ratten sein. Bitte nicht.
Sie spähte in ein weites Gewölbe, dessen Boden aus festgetretener Erde bestand. Etwa zwanzig Meter entfernt bemerkte Magda ein schwaches Glühen, und als sie die Lampe ausschaltete, bestätigte sich ihre Annahme. Durch eine Dec kenöffnung fiel Licht in die Höhle, und Magda erkannte auch die Konturen einer Treppe.
Von einem Sekundenbruchteil zum anderen begriff sie, wo sie sich befand. Von Osten her blickte sie in die Räumlichkeiten unter dem Keller der Feste. Vor zwei Nächten hatte sie an jener Treppe gestanden, während ihr Vater sich die Leichen ansah.
Die Leichen der ermordeten Soldaten.
Die Stufen auf der rechten Seite – das bedeutete, daß die Toten weiter links lagen.
Das schabende Kratzen wiederholte sich, leise und unheimlich.
Magda unterdrückte ein Schaudern, schaltete die Taschenlampe wieder ein und setzte den Aufstieg fort. Nur noch ein Absatz … Sie richtete den Lichtkegel nach oben und betrachtete eine kleine Nische, an der die lange Treppe endete. Dieser Anblick bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit, denn sie wußte, daß sich der Hohlraum auf einer Höhe mit dem ersten Stock des Wachturms befand.
Rasch brachte Magda die letzten Stufen hinter sich, kroch in die Nische und preßte sich an den großen Stein auf der rechten Seite. Er hing ebenfalls an Angeln, wie der Block zwanzig Meter weiter unten. Sie horchte, konnte jedoch nichts hören, weder Stimmen noch Schritte. Ihr Vater war allein.
Magda drückte und rechnete damit, daß der Stein sofort nachgab. Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Mit ihrer ganzen Kraft stemmte sie sich dagegen, ohne ihn auch nur einen Millimeter weit zur Seite rücken zu können. Nach ei nigen weiteren vergeblichen Versuchen ging sie in die Hoc ke und zwang sich dazu, über die verschiedenen Möglichkeiten nachzudenken. Vor fünf Jahren war es ihr nicht schwergefallen, den Stein zu bewegen. Hatte sich in der Zwischenzeit irgend etwas verändert?
Sie widerstand der Versuchung, mit der Taschenlampe an die Wand zu klopfen, um ihren Vater auf sich aufmerksam zu machen. Er konnte ihr wohl kaum dabei helfen, den Zugang zu öffnen. Und was würde geschehen, wenn nicht nur er das Klopfen hörte, sondern auch einer der Wachtposten? Nein, ein solches Risiko durfte sie nicht eingehen.
Magda unternahm noch einen letzten verzweifelten Versuch und stemmte sich wieder gegen den Stein. Ohne Erfolg.
Wütend, enttäuscht und verbittert saß sie in der Dunkelheit – und plötzlich fiel ihr etwas ein. Es gab noch einen anderen Weg zum Turm: durch die Höhle unter dem Keller. Wenn sie auf der Treppe keine Wächter traf, schaffte sie es vielleicht bis zum Hof. Und wenn dort noch immer Finsternis herrschte, wenn die Glühbirnen nicht brannten, wenn sie den Platz unbemerkt überquerte … Wenn, wenn, dachte sie. Und: Bleibt mir eine Wahl?
Hastig kehrte sie zur Wandöffnung zurück, spürte dort wieder den kalten Luftzug und hörte das ferne Kratzen. Sie schlüpfte durch den schmalen Spalt und lief zur Treppe und auf das diffuse Glühen zu, das sich auf den Stufen spiegelte. Den Lichtkegel der Taschenlampe hielt sie auf den Boden unmittelbar vor ihr
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