Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
gerichtet. Sie wagte es nicht, zur Seite zu blicken. Der Gedanke an die Leichen jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken.
Während sie tiefer in das weite Gewölbe vorstieß, fiel es ihr zunehmend schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nur das Pflichtbewußtsein und die Sorge um den Vater trieben sie an. Aber gleichzeitig stemmte sich ihr etwas anderes entgegen und leistete immer mehr Widerstand. Die tieferen Bereiche ihres Wesens rebellierten und versuchten, die Kontrolle über den Körper an sich zu reißen und sie zur Flucht zu bewegen.
Magda überhörte das warnende Kreischen ihrer Instinkte. Sie wollte sich jetzt nicht mehr aufhalten lassen. Ängstlich musterte sie die Schatten, die ein seltsames Eigenleben zu führen schienen, sich verdichteten und bewegten und langsam näher kamen. Das bildest du dir nur ein. Achte nicht darauf. Die Angst spielt dir einen Streich. Kämpf dagegen an.
Nur noch einige Meter trennten sie von der Treppe, als sie etwas auf der untersten Stufe sah. Ein pelziges Wesen, das die Angst in jähe Panik zu verwandeln drohte.
Eine Ratte!
Sie saß auf den Hinterpfoten, den langen Schwanz halb um den dicken Leib geschlungen. Abscheu und Ekel erfaßten Magda. Sie begann zu würgen, aber sie wußte mit einer Sicherheit, die keinen Zweifel zuließ, daß sie unmöglich an dem Tier vorbeigehen konnte.
Die Ratte hob den Kopf, starrte sie an, sprang dann zur Seite und verschwand in der Dunkelheit. Magda wartete nicht darauf, daß sie es sich anders überlegte und zurückkehrte. Sie lief die Stufen hinauf, blieb stehen und lauschte.
Oben war alles still – keine deutschen Stimmen, keine Schritte. Magda hörte nur das beständige Kratzen, das inzwischen lauter geworden war und seinen Ursprung in irgendeinem fernen Winkel des Gewölbes zu haben schien.
Sie drehte die Taschenlampe hin und her, um sich zu vergewissern, daß keine anderen Ratten in der Nähe hockten. Dann holte sie tief Luft, ging auf leisen Sohlen weiter, bis sie das Loch im Boden des Kellers – in der Höhlendecke – erreichte. Sie gab keinen Laut von sich, als sie in den von Glühbirnen erhellten Korridor blickte. Weit und breit war niemand zu sehen. Magda stieg rasch die letzten Stufen hoch, trat in den Gang und verharrte erneut. Nichts. Offenbar befanden sich keine Wächter in der Nähe.
Jetzt begann der schwierige Teil. Sie mußte durch den langen Flur, der zum Hof führte, anschließend den Platz überqueren und den Turm betreten …
Eins nach dem anderen, ermahnte sie sich. Zuerst der Korridor. Wenn du sein Ende erreicht hast, kannst du dir über den Rest des Weges Gedanken machen.
Magda lief los. Sie bewegte sich ebenso schnell wie leise. Sie hatte nur noch einige Meter vor sich, als sie Schritte hör te. Jemand kam ihr entgegen.
Die junge Frau zögerte nicht, öffnete eine der Türen in der Korridorwand und wich ins Zimmer zurück.
Eine Sekunde später erstarrte Magda. Sie sah, hörte und berührte nichts, aber trotzdem war sie sicher, nicht allein zu sein. Sie mußte fort , auf den Flur zurück. Und die Schritte? Irgend jemand näherte sich aus der anderen Richtung; er hätte sie bestimmt entdeckt.
Hinter ihr bewegte sich etwas und packte sie an der Schulter.
»Wen haben wir denn hier?« fragte jemand auf deutsch und zerrte sie in den Korridor. »Laß dich mal im Licht ansehen …«
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie den Kopf dreh te, um die Farbe der Uniform zu erkennen. Grau bedeutete, daß sie vielleicht noch eine Chance hatte. Schwarz hingegen …
Ihre Befürchtungen erfüllten sich. Der Mann hinter ihr gehörte zu der Einsatzgruppe unter Sturmbannführer Kämpffer. Und ein zweiter SS-Soldat kam herbei.
»Es ist die Jüdin!« entfuhr es dem ersten Mann. Er trug keinen Helm, und seine Augen wirkten ein wenig glasig. Vermutlich hatte er geschlafen, als Magda das Zimmer betrat.
»Wie ist sie in die Feste gelangt? Das Tor wird bewacht.«
»Keine Ahnung«, erwiderte der zweite Soldat, ließ sie los und schob sie zur Treppe, die auf den Hof führte. »Wir bringen sie besser zum Sturmbannführer.«
Er ging ins Zimmer zurück, um seinen Helm zu suchen, und der zweite Mann trat an Magdas Seite. Die junge Frau handelte aus einem reinen Reflex heraus. Sie gab dem ersten Schwarzgekleideten einen Stoß und lief in die Richtung, aus der sie gekommen war. Auf keinen Fall wollte sie Kämpffer begegnen. Wenn es ihr gelang, das Gewölbe unter dem Kel ler zu erreichen … Nur sie kannte den
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