Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
seinen Blick über den kleinen Wohnraum schweifen. Der Verputz war frisch gestrichen; die Möbel waren alt und abgenutzt, aber gewachst und sauber. Ein dicker Buddha aus Gips saß im Lotussitz auf einem Ecktisch; darüber hing an der Wand ein Kruzifix. Das Kind hustete wieder aus dem hinteren Teil des Appartements. Diesmal klang der Husten noch pfeifender.
»Ihr Sohn?«, fragte Alan. Es schien unwahrscheinlich, aber man wusste ja nie.
»Enkelsohn«, sagte Chac und warf sich in die Brust.
Das Husten hielt an. Es klang jetzt schon fast wie das Bellen eines Seehunds. Aber das war es nicht, was Alan Sorgen machte. Schlimmer war das pfeifende Einatmen zwischen den Hustenanfällen. Das war es, was ihm keine Ruhe gab und ihn schließlich aufstehen ließ.
Das Kind war ernsthaft krank.
Auch Chac hatte bemerkt, dass es nicht mehr um einfachen Husten ging. Er stürzte an Alan vorbei und ging voraus. Auf halbem Weg erschien eine dünne Frau im Flur und schloss sich der Prozession in das Schlafzimmer im hintersten Teil der Wohnung an. Sie war ungefähr im gleichen Alter wie Chac und trug eine lange dunkelblaue Robe.
Gerade als sie die Tür erreichten, brach der Husten abrupt ab, so als ob sich eine Schlinge um den Hals zugezogen hätte. Chac schaltete das Licht ein. Alan sah nur einmal auf den schwarzhaarigen Jungen mit dem fleckigen Gesicht und den weiten verschreckten schwarzen Augen und erkannte sofort, dass keine Sekunde zu verlieren war.
Krupphusten – mit akuter Epiglottitis!
»Holen Sie ein kleines scharfes Messer!«, sagte er zu Chac und schob ihn zur Küche hin.
Er musste einen Luftröhrenschnitt durchführen. Er hatte zweimal in seiner Assistenzzeit vor über zehn Jahren bei einer solchen Notfalloperation zugesehen, war aber niemals in die Verlegenheit gekommen, eine solche Operation selbst durchführen zu müssen. Er hatte auch immer gehofft, dass es nie so weit kommen würde. Die Kehle eines Menschen aufzuschneiden und sich dann durch die Schildknorpelmembran zu bohren, um die Atemwege frei zu machen, ohne eine Arterie oder die Schilddrüse zu beschädigen, war schon bei einem sedierten Patienten eine schwierige Aufgabe. Bei einem sich krümmenden, sich sträubenden, völlig verängstigten Kind schien es Wahnsinn. Aber der Junge würde sterben, wenn er nicht bald Luft bekäme.
Chac hastete zurück und reichte ihm ein kleines Messer mit einer scharfen Klinge. Alan hätte eine schmalere Klinge vorgezogen – am liebsten das Mikroskalpell, das er seit zehn Jahren für solch einen Notfall in seiner schwarzen Tasche bei sich hatte. Aber die Tasche war im Kofferraum seines Wagens.
Das Kind warf sich auf dem Bett herum und schlug um sich. Es bog Rücken und Hals in der hoffnungslosen Anstrengung durch, Luft zu bekommen.
»Halten Sie ihn ruhig«, sagte Alan zu Chac und seiner Frau.
Die Frau, die sich Chac Hai nannte, sah voller Angst auf die Klinge, aber Chac schrie sie auf vietnamesisch an, und sie hielt den Kopf des Kindes mit ihren Händen fest. Das Gesicht des Kindes war inzwischen blau angelaufen. Als sich Chac über den Körper des Jungen gestellt hatte und ihn mit den Armen nach unten drückte, trat Alan vor. Sein Herz klopfte, und das Messer lag schlüpfrig in seinen verschwitzten Händen, als er die Haut des Jungen über der Luftröhre auseinanderspreizte.
Ein ekstatisches Gefühl schoss seinen Arm entlang.
Mit einem strudelartigen Pfeifen strömte Luft in die lechzenden Lungen des Kindes, dann wieder hinaus und wieder hinein. Seine Gesichtsfarbe wurde wieder normal, als es sich schluchzend an seine Großmutter klammerte.
Alan starrte verwundert auf seine Hände. Wie war das geschehen? Er sah auf seine Uhr: 22:45. War die Stunde der Macht noch nicht zu Ende? Was hatte McCready gesagt, wann die Flut einsetzen sollte? Er konnte sich nicht erinnern! Verdammt!
Aber spielte das eine Rolle? Das Wichtigste war, dass der kleine Junge lebte und wieder richtig atmete.
Chac und seine Frau starrten ihn ehrfürchtig an.
» Dat-tay-vao ?«, fragte Chac. »Sie haben Dat-tay-vao ?«
Alan zögerte. Aus einem seltsamen Grund hatte er das Gefühl, er sollte die Frage verneinen. Hatte man es ihm nicht auch geraten? Aber warum? Diese Leute wussten über die Gabe Bescheid.
Er nickte.
»Hier?«, fragte Chac und kam näher. Er sah ihm in die Augen. » Dat-tay-vao hier in Amerika?«
»So sagte man mir.«
Das vietnamesische Ehepaar lachte und weinte, drückte den schluchzenden Enkelsohn an sich und plapperte die ganze
Weitere Kostenlose Bücher