Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
Glücksgefühl. Alan empfand es heute als besonders angenehm, die Gabe anzuwenden. Vielleicht lag es daran, dass Chac seine Existenz und seine Wirkungen als selbstverständlich akzeptierte; es gab keine Zweifel zu überwinden, keine Vorurteile, die ausgeräumt werden mussten, keine Heimlichtuerei, nur einfach Akzeptanz. Und vielleicht, weil das Dat-tay-vao wieder bei dem Volk wirkte, das es am besten kannte und verehrte. In einem gewissen Sinn war die Gabe heimgekehrt.
Chac hob seine neuen Hände und Gelenke vor die Augen und spielte mit seinen schlanken geraden Fingern. Tränen rollten über seine Wangen. Sprachlos dankend nickte er Alan zu, der verständnisvoll eine Hand auf die Schulter des älteren Mannes legte.
Chac erhob sich und zeigte Hai seine Hände. Sie umarmte ihn. Dann ging er zur Haustür und öffnete sie.
Der Flur war voller Leute. Es schien fast so, als habe sich die ganze südostasiatische Bevölkerung der Stadt vor der Tür zusammengefunden. Sie keuchten wie ein Mann auf, als sie Chacs gesunde Hände sahen, und brachen dann in einen Singsang verschiedenster Sprachen aus; nur Englisch schien nicht darunter zu sein.
Chac wandte sich ihm zu und trocknete seine Augen. »Ich danke Ihnen. Und ich frage, ob Sie so freundlich sein würden, das Dat-tay-vao auch andere heilen zu lassen.«
Alan antwortete nicht.
Warum ich?, fragte er sich zum tausendsten Mal. Warum trug gerade er die Verantwortung für das Dat-tay-vao? Warum musste er entscheiden, wann er es anwenden sollte und wann nicht? Er erinnerte sich schwach an eine Warnung, dass es ihm schaden würde, dass er jedes Mal einen Preis zu zahlen hatte.
Will ich es?
Er sah über den Tisch auf den kleinen glücklichen Jungen, der mit seiner Großmutter zusammensaß, lebend und gesund an diesem Morgen, statt tot oder an einem Beatmungsgerät. Er sah Chac, wie er unaufhörlich mit seinen gesunden Fingern spielte. Und er sah Mr K.s Zigarettenschachtel.
Genau darum ging es: Um eine zweite Chance. Eine Chance, wieder dahin zurückzugehen, wo die Krankheit aufgetreten war, und noch einmal von vorn anzufangen. Vielleicht war das die Antwort auf Warum ich? Er wollte, dass diese Leute eine zweite Chance bekamen – er wollte ihnen allen diese zweite Chance geben.
»Doktor?«, fragte Chac und wartete.
»Bring sie herein«, antwortete er Chac. »Bring sie alle herein.«
Alan wartete voll Vorfreude, als Chac zur Tür zurückging. Das würde schön werden. Er musste sich hier nicht verstecken. Er brauchte sich keine Sorgen um Reporter, Krankenhausrepräsentanten und intrigante Politiker machen. Es ging nur um Alan, den Patienten und das Dat-tay-vao .
Er bedeutete Chac, sich zu beeilen. Heute würde er sich nicht zurückhalten, nicht alles unter den Tisch kehren. Die Gabe würde in einer Stunde wieder abklingen und bis da hin wollte er so viele wie möglich geheilt haben.
Chac brachte den ersten Patienten zu ihm: Ein Mann in mittleren Jahren, dessen Arme beide rechtwinklig von seinem Körper abstanden.
»Die Vietkong haben ihm beide Ellbogen gebrochen, damit er in seinem weiteren Leben allein nicht mal mehr essen und trinken kann.«
Alan verschwendete keine Zeit. Er ergriff beide Ellbogen und spürte das vertraute Zucken. Der Mann schrie auf, als seine Arme sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder strecken ließen, und er begann, mit ihnen hin und her zu wedeln. Er fiel auf die Knie, aber Alan schob ihn sachte zur Seite, und winkte einen humpelnden Jungen zu sich heran.
Einer nach dem anderen kamen sie zu ihm, eine unaufhörliche Prozession. Und während das Dat-tay-vao seinen Zauber an ihnen allen wirkte, spürte Alan, wie er in einer immer tiefer werdenden euphorischen Trance versank. Der Raum um ihn herum verschwamm. Alles, was blieb, war der Blick auf seine Hände und den Menschen vor sich. Ein Teil von ihm bekam Angst und bat ihn innezuhalten. Alan ignorierte ihn. Hier war Friede, mit sich und mit seinem Leben. Das hier war so, wie es sein sollte. Das war das, was das Leben ausmachte, dafür war er geschaffen.
Er machte weiter, zog die Leute buchstäblich an sich und stieß sie wieder weg, sobald das Glücksgefühl ihn durchpulste.
Der Nebel um ihn herum wurde dichter. Und immer noch kamen Leute.
Die Blitze des ekstatischen Gefühls verschwanden, aber der Schleier blieb. Er schien alle Schichten seines Bewusstseins zu durchdringen.
Wo bin ich?
Er versuchte, sich zu erinnern, aber die Antwort blieb aus.
Wer bin ich?
Er konnte sich nicht
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