Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
Anfang. Sie erschien am Fuß des Bettes und entblößte ihre Schultern und Beine, um ihm all diese vollkommen unmöglichen blauen Flecke zu zeigen, die sie immer wieder bekam, und die drohten, ihr ihren Debütantinnenball zu ruinieren, weil ihr Kleid nun mal schulterfrei war. Sie hatte damals nicht gewusst, dass ihr Knochenmark buchstäblich Amok lief und sich selbst zerstörte und sie dabei mit. Alan hatte das auch nicht sofort gewusst, aber jetzt überkam ihn wieder das flaue Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Hämatokritwert ermittelte und die viel zu dicke Schicht von Leukozyten in dem Röhrchen sah. Schließlich verging die Erinnerung wie das Mädchen selbst, das von ihrer Leukämie dahingerafft wurde, bevor sie die Schule beendet hatte.
Der kleine Bobby Greavy kletterte auf das Bett, um zu zeigen, dass die Auswirkungen von außer Kontrolle geratenem Knochenmark auf den Körper eines jungen Mädchens nichts waren im Vergleich zu dem, was Menschen sich gegenseitig antaten. Bobby war ein Besucher aus Alans Zeit als Assistenzarzt und jetzt drehte er sich gewandt um, um die rote, blasige Verbrennung zweiten Grades auf seinem Rücken zu präsentieren – ein perfektes dreieckiges Abbild des Bügeleisens seiner Mutter.
In Bobbys Begleitung war dann auch fast unweigerlich Tabitha, das kleine siebenjährige Mädchen, dem so auf den Kopf geschlagen worden war, dass sie davon erblindete. Trotz Alans Bitten, Flehen und heftiger Proteste waren beide per Gerichtsbeschluss wieder zu ihren jeweiligen Familien zurückgekommen und Alan hatte sie nie wiedergesehen.
Bobby und Tabitha gingen in Maria Cardoza über. Sie war ein häufiger Gast. Die schlanke, schöne, neunzehn Jahre alte Maria. Wie gewöhnlich fuhr sie auf ihrem Krankenbett herein, nackt, und blutete aus Nase, Mund, den Schnittwunden in ihrem Bauch, dem Anus und der Vagina. So hatte er sie zuletzt gesehen und dieser Anblick hatte sich in sein Unterbewusstsein eingebrannt. Vor vier Jahren war er gerade durch die Notaufnahme gekommen, als der Rettungswagen sie hereinbrachte. Es hatte einen Frontalzusammenstoß zweier Autos auf der 107 gegeben. Er hatte sie nur einmal zuvor kurz in seiner Praxis gesehen, weil sie einen unbedeutenden Grippeinfekt hatte. Weil niemand anderes verfügbar war, hatte er dem diensthabenden Chirurgen dabei assistiert, die gerissene Milz zu entfernen und die durchstochene Leber zu vernähen. Die Operation war erfolgreich, aber die Gerinnungsfaktoren in ihrem Blut waren aufgebraucht und die Blutung ließ sich einfach nicht stoppen. Alan hatte einen Hämatologen aus dem Bett geholt, aber was sie auch versuchten, Marias Blut wollte einfach nicht gerinnen. Heute spürte er die grimmige, fast hysterische Frustration seiner Hilflosigkeit, der Vergeblichkeit jedes seiner Versuche, sie zu retten, genauso stark wie in jener Nacht. Er hatte bis zum Morgen an ihrem Bett gewacht und zugesehen, wie Liter um Liter all der Infusionen und Blutkonserven, die sie ihr in die Adern pumpten, durch die Drainagen in ihrer Bauchhöhle wieder herausliefen. Ihre Nierenfunktion brach zusammen, dann bekam sie einen Herzstillstand, dann war es vorbei.
Aber nicht für immer.
Maria und ihre Gefährten lebten weiter und suchten Alan in regelmäßigen Abständen heim.
Es war fast so weit.
Mike Switzer, riesige Augen hinter einer dicken Hornbrille, lockiges braunes Haar, das ihm ins eckige Gesicht fiel, hielt sich den ganzen Morgen an Alans Seite.
»Bleib ganz ruhig, Alan«, sagte er ständig. »Lass dich nur nicht nervös machen.«
Alan nickte darauf immer nur. »Sicher. Mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut.«
Aber es ging ihm nicht gut. Er fühlte sich, als ob er gleich den Löwen zum Fraß vorgeworfen würde. Er hatte Magenschmerzen, und seine Blase drängte ihn ständig zur Toilette, obwohl er schon dreimal dort gewesen war.
Er hatte gehört, dass McCready einen zerriss und verfrühstückte, noch bevor man wusste, dass er mit einem sprach.
Der Anhörungssaal war genauso wie diejenigen, die er zuweilen im Fernsehen gesehen hatte: Die Wände waren mit Eichenpaneelen vertäfelt und die Politiker und ihre Assistenten saßen in einer Reihe auf einer erhöhten Plattform hinter ihren Schreibtischen wie Cäsaren im Kolosseum, und die unter ihnen sitzenden Gutachter waren die Christen, die auf ihren Auftritt in der Arena warteten. Gelangweilt aussehende Reporter spazierten in den Saal hinein und wieder hinaus oder lümmelten sich auf ihren Stühlen im
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