Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
sie mit ihren Problemen kamen, jemand, den sie anriefen, wenn ihre Kinder krank waren, jemand, der auf ihrer Weihnachtskartenliste ganz oben rangierte.
Zukünftig würden die Patienten wohl nur noch Nummern sein, die von einem bei der Regierung oder einem kommunalen Krankenhaus angestellten Arzt abgefertigt wurden, der x Stunden lang y Patienten pro Tag behandelte, dann die Stechuhr bediente und wie jeder andere nach Hause ging.
Alan war nicht völlig immun gegen die Verlockung geregelter Arbeitszeiten: Ein planbarer Tagesablauf, festes Einkommen, Krankenversicherung und Rentenansprüche, keine Anrufe mitten in der Nacht, am Sonntagnachmittag oder während des Pokalendspiels. Die Vorstellung hatte ihren Reiz …
Für Roboter war das vielleicht die perfekte Lösung, aber nicht für Dinosaurier.
Switzer hatte sich zum Fürsprecher der amerikanischen Ärzte aufgeschwungen, aber wie viel davon Überzeugung und wie viel Show war, konnte Alan nicht sagen. Sie kannten sich noch aus ihren frühen Tagen an der Uni. Sie waren locker befreundet, bis das jeweilige Studium immer größeren Raum einnahm. Mike studierte Jura, Alan Medizin. Alan hatte Mike immer für einen anständigen Kerl gehalten, aber er war nun einmal Berufspolitiker, und als solcher musste er natürlich aufpassen, woher der Wind wehte.
Switzer schien jedenfalls zu wissen, wie man in den Schlagzeilen bleibt. Auf kommunaler Ebene hatte er sich mit den Verkehrsbetrieben angelegt, auf nationaler Ebene lieferte seine Konfrontation mit Senator McCready jedes Mal wieder Nachrichtenstoff. Aber wie viel seiner Kritik an McCreadys Gesetzesvorlage zu den Medizinischen Richtlinien war der eigenen Überzeugung geschuldet und wie viel der Tatsache, dass McCready und der Leiter der MZA, der kommunalen Verkehrsbetriebe, der gegnerischen Partei angehörten?
Diese Unsicherheit machte Alan nervös. Im Augenblick war er jedoch auf Switzer angewiesen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen.
Und morgen lege ich meinen Kopf auf den Richtblock.
Die Anhörung begann zu einer äußerst unüblichen Zeit, nämlich um 7 Uhr morgens, deshalb stellte er den Fernseher ab, zog sich aus, goss noch einen Whisky ein und lag dann im Dunkeln im Bett. Er versuchte, einen Radiosender zu finden, der Oldies spielte, aber der Empfang war schlecht, und so fand er sich damit ab, in der Stille auf den Schlaf zu warten. Er wusste, dass er Geduld haben musste, da es wieder eine von diesen Nächten werden würde.
Alles wie gehabt, dachte er, als er im Bett lag.
Es war immer das Gleiche. Immer, wenn er die Stadt verließ, verbrachte er die erste Nacht damit, seine eigene Version der Weihnachtserzählung von Charles Dickens durchzuspielen.
Er kämpfte mit dem ungewohnten Bettzeug und der fremden Matratze, geplagt von den Geistern seiner gegenwärtigen Patienten: den Kranken, die er zurückgelassen hatte. Sie waren in guten Händen, aber er war nicht in der Stadt, und sie waren für ihn nicht erreichbar. Er fragte sich, ob er falsche Diagnosen gestellt hatte oder ob ihm therapeutische Fehler unterlaufen waren, die vielleicht nicht rechtzeitig bemerkt werden würden. Die gleichen Sorgen quälten ihn jede Nacht, aber ganz besonders dann, wenn er nicht in der Stadt war.
Er fragte sich, ob auch die anderen Ärzte nachts nicht schlafen konnten, weil sie sich Gedanken um ihre Patienten machten. Er hatte darüber noch nie mit jemand anderem gesprochen, weil sich das kitschig anhörte, wie aus einem billigen Arztroman.
Die Sorgen um die gegenwärtigen Patienten machten allmählich den Geistern der künftigen Patienten Platz, Produkte von Alans chronischer Angst, nicht mehr auf dem neuesten Stand in der Medizin zu sein. Er wusste, es war eine unmögliche Aufgabe, immer auf der Höhe der Technik zu sein, aber es wurmte ihn, wenn er ein neues Diagnosegerät oder eine neue Therapie nicht kannte, mit der er vielleicht einem seiner Patienten helfen könnte.
Und schließlich – sein Unbewusstes sparte sich immer das Schlimmste für den Schluss auf – die Geister der vergangenen Patienten. Vor ihnen fürchtete er sich am meisten. Wie eine schweigende Meute nach einem Unfall versammelten sich die Misserfolge seiner ärztlichen Laufbahn um sein Bett, krochen auf die Bettdecke und umschwebten seinen Kopf, während er in den Schlaf glitt. Die Fehlschläge – diejenigen, die ihm durch die Hände geglitten waren, die zerstörten Leben, die seine Laufbahn begleiteten.
Caroline Wendeil machte heute den
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