Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
führte eine Kanüle in die arteriellen und venösen Enden ein. Er befestigte sie an dem Dialysegerät und beobachtete, wie das Blut in die Maschine zu fließen begann.
»Möchtest du fernsehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht später. Ich will erst das hier lesen.«
Sie hielt die letzte Buchausgabe von »Mutts« hoch. Das war zurzeit ihr Lieblingscomic, weil sie Mooch, die Katze, so toll fand.
Charles legte die Fernbedienung für den Fernseher neben ihren Sessel, richtete sich über dem Dialysegerät – das ihm bis zur Brust reichte – auf und sah zu, wie die Maschine arbeitete, das rote Blut und das farblose Dialysat nebeneinander her an beiden Seiten der Membran entlangpumpte und dann das aufgefrischte Blut gereinigt von den meisten Toxinen wieder in Julies Adern zurückleitete, während das verunreinigte Dialysat aufgefangen wurde. Charles war sehr zufrieden mit diesem Modell. Es gab selten Probleme mit den Druckeinstellungen und Julie hatte in diesem Jahr erst zweimal einen Kreislaufzusammenbruch erlitten – eine sehr gute Quote.
Er ließ sich auf der Couch auf der anderen Seite des Zimmers nieder.
Wie hält sie das nur aus?, fragte er sich zum tausendsten Mal, als er ihr Lächeln und gelegentliches Kichern, als sie im Buch blätterte, beobachtete. Wie hält sie das durch, ohne verrückt zu werden?
Wie lange sollte das so weitergehen? Irgendetwas musste bald passieren. Es war unvorstellbar, dass sie das bis zum Ende ihres Lebens durchmachen sollte. Es war die Hölle …
… drei Stunden an der Maschine dreimal die Woche. Er legte die Zeit für die Dialyse immer ans Ende des Tages, weil es sie erschöpfte. All diese Tabletten … diejenigen, die keine Übelkeit erregten, lösten Verstopfung aus. Sie musste jeden verdammten Milliliter erfassen, der über ihre Lippen ging, damit ihr Gefäßsystem nicht überlastet wurde. Und die Diät – so gut wie kein Natrium, Protein oder Phosphat, was bedeutete: keine Pizza, keine Milchmixgetränke, kein Eis, keine Mixed Pickles, keine Hamburger oder alle anderen Sachen, die Kinder gerne essen. Sie war ständig erschöpft und müde, sodass sie nicht an keinerlei Aktivitäten teilnehmen konnte, die körperliche Anstrengung erforderten.
Das war kein Leben für ein Kind.
Aber das war nicht das Schlimmste. Typisch für Kinder an Langzeit-Dialyse war, dass sie nicht wuchsen und sich nicht normal entwickelten. Wenn sie Teenager wurden, waren sie … keine Teenager. Sie blieben schmächtig: Sie entwickelten kaum sekundäre Geschlechtsmerkmale, und das forderte nach einer Zeit einen furchtbaren psychischen Tribut. Julie war noch nicht in dem Alter, aber sie würde bald so weit sein. Und sie war jetzt schon sehr klein für ihr Alter.
Charles musterte Julie mit ihren großen braunen Augen und dem rabenschwarzen Haar. So schön. Genau wie ihre Mutter. Ein Glück für sie, dass das das Einzige war, was sie von dieser verdammten Schlampe geerbt hatte. Er bemerkte das Knirschen seiner Zähne und verbannte seine Exfrau aus seinen Gedanken. Jedes Mal, wenn er an sie dachte oder jemand ihren Namen erwähnte, bekam er gewalttätige Anwandlungen.
Sie hätte ihn nicht verlassen müssen. Es war schwer, mit einem Kind mit chronischem Nierenversagen zu leben, aber viele Eltern hatten ein noch schlimmeres Schicksal. Und Jesus, wenn man sich Sylvia anschaute – sie hatte einen verdammt autistischen Jungen adoptiert! Wenn seine Exfrau nur so wäre wie Sylvia – was für ein Leben hätten sie haben können!
Aber es war sinnlos, sich über das Thema zu grämen. Im Laufe der Jahre hatte er das alles schon so oft durchgekaut. Es gab wichtigere Sachen im Hier und Jetzt.
So wie der Anruf von Julies Nierenarzt vor einer Stunde. Ihr Blutbild zeigte immer noch eine hohe Konzentration zytotoxischer Antikörper, Jahre, nachdem ihr Körper die Niere abgestoßen hatte, die er ihr gespendet hatte. Sie war schon vorher kein guter Transplantationskandidat gewesen, aber solange die Antikörperkonzentration nicht sank, bestand dafür gar keine Chance.
Also machte sie einfach weiter, produzierte ein paar Tröpfchen Urin pro Woche, fühlte sich fast immer schlapp und bekam dreimal die Woche eine Dialyse in diesem Zimmer. Für Charles war ein solches Leben unvorstellbar, aber für Julie war es das einzige Leben, das sie je gekannt hatte.
Er sah eine Zeit lang fern, und als er um halb neun nach ihr schaute, war sie eingeschlafen. Er wartete, bis ihre Dialyse beendet war, löste sie von der
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