Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Mitte der linken Seite aufgebaut war. Ein von Loving Spoonful abgekupfertes Quartett, das sich selbst als Harold’s Purple Crayon vorgestellt hatte, karrte gerade sein Equipment von der Bühne, um der nächsten Band Platz zu machen.
»Laut, aber nicht schlecht«, sagte er zu Jim und Carol. »Die Harmoniegesang-Parts waren wirklich gut. Und ich mochte diese Nummer mit dem Waschbrett.«
»Aus denen wird nichts«, meinte Jim und nuckelte an seiner fast leeren Bierflasche. »Ein bisschen von den Stones, etwas Spoonful, ein bisschen Beatles, ein Hauch von Byrds. Ich mag das, aber das lässt sich nicht verkaufen. Die haben keinen eigenen Sound. Das ist ein Mischmasch. Aber immer noch besser als diese erste Band, die Kahlil Gibrans Texte mit Acid Rock unterlegt hat. Was für eine bescheuerte Idee!«
Bill musste einfach lachen. »Jim Stevens: der härteste Kritiker der Welt. Gibran ist gar nicht so übel.«
Carol berührte seinen Arm. »Reden wir doch lieber über das, was du gesagt hast, bevor man sich wegen der Band nicht mehr unterhalten konnte. Darüber, dass du nach New Hampshire gehen willst. Glaubst du wirklich, dass McCarthy bei den Vorwahlen eine Chance hat?«
»Ich schätze schon.«
Er griff nach seinem Bier, nicht, weil er gerade jetzt trinken wollte, sondern um den Kontakt mit Carols Hand auf seinem Arm zu unterbrechen. Das fühlte sich so gut an, so weich und warm. Sie weckte Gefühle in ihm, die besser weiterschlafen sollten. Er sah sie an.
Carol Nevins, verheiratete Stevens: Mädchen, was war ich in dich verknallt. Kino, Händchenhalten, ein Arm um deine Schulter oder um deine Taille, Abschiedsküsse. Aber mehr war nicht. Teenagerliebe. Jetzt bist du eine Frau und dein Haar ist länger und deine Figur voller, aber dein Lächeln ist so entzückend und deine Augen strahlen so hell wie eh und je.
Bill wusste, sie würde ein Problem werden. Sie war es bereits. Seit ein paar Nächten hielten ihn zunehmend erotischer werdende Gedanken an Carol weit über seine übliche Schlafenszeit hinweg wach.
Über die Jahre im Priesterseminar hatte er sich bemüht, sich so weit zu erziehen, dass er sein Zölibatsversprechen ganz selbstverständlich einhielt. In gewisser Weise asexuell zu werden. Es war nicht so schwierig gewesen, wie er gedacht hatte. Zuerst hatte er sich angewöhnt, sein sexuelles Verlangen als eine Art Spannungsbogen zu betrachten, eine selbst auferlegte Verzögerung zwischen der Lust nach etwas und der Handlung, um diese Lust zu befriedigen. Jeden Tag hatte er seine sexuellen Begierden auf Morgen verschoben. Aber dieses Morgen kam nie. Ein sich in die Ewigkeit erstreckender Spannungsbogen.
Mit den Jahren wurde es leichter. Es hatte gedauert, aber jetzt konnte er ohne Weiteres Versuchungen oder eventuell kritische Gelüste wegschließen und sie ins Nirwana abschieben, bevor sie sich in seinem Bewusstsein oder seiner Libido breit machen konnten.
Warum klappte das also mit Carol nicht? Warum konnte er sie nicht daran hindern, in seinen Gedanken ein und aus zu gehen, seit er sie vor einer Woche wiedergesehen hatte?
Vielleicht, weil Carol noch aus der Zeit davor stammte. Heute würde sich keine Frau mehr in seinem Gefühlsleben einnisten können, aber Carol war in seinem ganz persönlichen Garten aufgeblüht, bevor er die Mauern darum errichtet hatte. Er hatte gedacht, seine Gefühle für sie gehörten der Vergangenheit an, aber offenbar stimmte das nicht. Offenbar war in diesen alten Wurzeln immer noch Saft.
Ist das nicht völlig albern, diese Sache mit dem Zölibat?
Wie oft hatte er diese Frage schon gehört, von anderen, aber auch von sich selbst! Jemand, der dem ablehnend gegenüberstand, hatte sogar mit Marx zitiert, dass es einfach sei, ein Heiliger zu werden, wenn man nicht Manns genug war, ein Mann zu sein. Bill hatte das mit einem Achselzucken abgetan. Das Zölibat war Teil der Absprache, Teil des Opfers, das er Gott gebracht hatte – man gibt Macht, Reichtum, sexuelle Beziehungen und andere Ablenkungen auf, um all seine Energie auf Gott zu konzentrieren. Die Selbstverleugnung stärkt den Glauben.
Bill wusste, wie tief sein Glaube war. Er durchdrang sein Herz und seinen Verstand. Er war stolz darauf, weder ein dem Himmel zugewandter Asket noch ein in der Entwicklung stecken gebliebener Messdiener zu sein. Er stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit. Er hatte einen reifen, intellektuellen Glauben, der sich über Märchen und Mythen und Bibelgeschichten hinwegsetzte. Er
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