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Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung

Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung

Titel: Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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trafen. Der Hof war eine einzige Schlammpfütze, nachdem es wochenlang heftig geregnet hatte. Er hörte ein lautes Tosen wie von einem Zug, der eine Steigung herunterrollt, sah auf und erblickte eine anstürmende Mauer aus dreckigem braunen Wasser, durchsetzt mit wild umherwirbelnden Trümmerteilen, die auf ihn zuraste.
    Er schaffte es gerade noch zu der riesigen Eiche, die mitten auf dem Hof stand. Als das Wasser immer höher stieg und um seine Knöchel gurgelte, kletterte er in die unteren Zweige hoch. Der dicke Stamm ächzte und bog sich unter dem Ansturm des reißenden Wassers, aber die Wurzeln hielten.
    Er hörte ein Krachen wie von einer Kanonenkugel und drehte sich zum Haus um. Aus seinem sicheren Ausguck musste er zusehen, wie die Mauer aus Wasser sein Heim niederwalzte und zertrümmerte. Er hörte einen kurzen schrillen Schrei von seiner Mutter und keinen Laut von seinem Vater. Der Stall brach in sich zusammen und wurde zusammen mit dem Vieh und den zersplitterten Überresten des Hauses davongeschwemmt.
    Aber er selbst blieb auch nicht ungeschoren. Eine besonders heftige Welle erfasste seine Beine und riss sie von dem Ast, auf dem er Zuflucht gefunden hatte. Als er fiel und verzweifelt nach einem anderen Ast griff, durchbohrte ein hervorstehender Zweig sein linkes Auge. Der Schmerz war wie ein weißglühendes Eisen, das sich in sein Gehirn brannte. Er kreischte vor Schmerz, aber er ließ nicht los, fand wieder Halt für seine Füße, und zog sich weiter hoch, bis er außer Reichweite des Wassers war.
    Er erreichte einen hohen Ast und setzte sich rittlings darauf. Dann hielt er sich mit einer Hand seine blutige zerstörte Augenhöhle, wiegte sich vor und zurück und würgte aufgrund der Schmerzen, die wie glühende Kohlen in ihm pochten.
    Das Wasser stieg höher und höher, aber der Baum blieb standhaft. Als der Tag der Nacht wich, verebbte auch der Schmerz in seinem Auge zu einem dumpfen Ziehen. Der Mahlstrom wurde zu einem träge nach Süden abfließenden See.
    Dinge, lebende und vergangene, begannen an ihm vorbeizutreiben: ein Kind, das seine einsame Angst hinausplärrte, klammerte sich an ein Hausdach; eine wimmernde Frau auf einem Baumstamm; ertrinkendes Vieh, dass muhte und gurgelte; ein Mann, der von einem treibenden Trümmerteil hinabsprang und auf den Baum zuschwamm, nur um ihn knapp zu verfehlen und von der Strömung weggerissen zu werden.
    Der kleine Jonah saß sicher und trocken über ihnen allen und sah das alles mit seinem gesunden Auge von seiner hohen Warte auf der Eiche aus. Nach allem, was geschehen war, hätte er unter Schock stehen müssen, betäubt von Kummer und Schreck, weil er gerade sein Heim und seine Familie verloren hatte, er hätte sprachlos und gelähmt sein müssen angesichts seiner eigenen Verletzung und dem Ausmaß von Tod und Zerstörung um sich herum.
    Aber dem war nicht so. Wenn überhaupt, war es genau das Gegenteil. Er fühlte sich viel lebendiger durch die Katastrophe. Er klammerte sich an die Äste und sah fasziniert zu, wie jeder Leichnam, jedes mit dem Tod kämpfende Opfer an ihm vorbeigespült wurde. Und als die Dunkelheit hereinbrach, hielt er sich an die Geräusche der Nacht, jeden Klagelaut von Elend und Schmerz, jeden Schreckensschrei, und zog daraus neue Kraft.
    Die Schmerzen und die Ängste der Anderen waren wie ein Balsam für seine eigenen Schmerzen und sogen sie aus ihm heraus. Er hatte sich nie zuvor so stark, so lebendig gefühlt!
    Er wollte mehr davon.
    Zu seinem Bedauern ging das Wasser viel zu schnell zurück. Nach kurzer Zeit kam ein Boot mit Soldaten vorbei und sie klaubten ihn von seinem Ast wie ein hilfloses Kätzchen. Sie brachten ihn zu einer höher gelegenen Kirche, die als provisorisches Lazarett diente, verbanden sein linkes Auge und wiesen ihm ein Bett zu.
    Aber er konnte nicht schlafen. Er musste aufstehen und herumlaufen, musste all die Zerstörung, den Verlust und den Tod in sich aufsaugen. Er durchwanderte die Ruinen am Rand der langsam zurückweichenden Wassermassen. Er fand Kinder, die nach ihren Eltern riefen, nach Brüdern und Schwestern; Erwachsene, die um ihre Partner weinten oder um ihre Nachkommen. Er fand Hunderte tote Tiere – Hunde, Katzen, Kühe, Ziegen, Hühner – und auch den einen oder anderen menschlichen Leichnam. Wenn niemand in Sichtweite war, piekste er mit einem Stock in die Toten, um zu sehen, ob er die aufgedunsene Haut durchstechen konnte.
    Das Leid lag so schwer, so niederdrückend in der Luft, dass er sich kaum

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