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Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung

Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung

Titel: Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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den Eindruck, fehl am Platz zu sein. Sein ergrautes Haar war eher lang und fiel von der glänzenden Blöße der Tonsur über seine Ohren bis in den Nacken hinunter. Er war mittelgroß, aber sehr mager. Als er sich zu ihr umdrehte, sah Grace, dass er einen sorgfältig gestutzten dunklen Vollbart trug, der mit Grau gesprenkelt war. Obwohl er so ausgezehrt wirkte, hatte er ein rundes Puttengesicht. Seine Augen waren tiefbraun und sanft; die wettergegerbte Haut darum warf Fältchen durch das Lächeln, mit dem er auf sie zutrat und sie begrüßte.
    »Miss Nevins.« Seine Stimme war tief, weich wie Butter, mit einem französischen Akzent. »Wie schön, dass Sie kommen konnten. Ich bin Bruder Robert.«
    Er sprach es Robär aus.
    »Ich habe nur eine Minute Zeit«, sagte Grace.
    »Selbstverständlich. Ich wollte nur eine Gelegenheit, Sie persönlich einzuladen, sich unserem kleinen Kreis anzuschließen. Und um Ihnen deutlich zu machen, wie außergewöhnlich Sie sind.«
    Seine Augen … sie waren so weise … so sanft und freundlich …
    »Außergewöhnlich? Ich verstehe nicht.«
    »Gott hat Sie auserwählt, seine Warnung in seinem eigenen Haus zu verkünden. Es ist Ihnen bestimmt, in seinem Plan, den Antichrist zu vernichten, eine wichtige Rolle zu haben.«
    Mich? Warum sollte Gott mich erwählen?
    »Den Antichrist?«
    »Ja. Ihre Worte bei dieser Hymne waren eine Warnung des Herrn an uns alle. Der Heilige Geist hat Besitz von Ihnen ergriffen und Sie erkennen lassen – wie Er es auch bei Martin und mir und ein paar anderen Auserwählten getan hat –, dass der Teufel zu Fleisch geworden ist und unter uns lebt.«
    Grace hatte nicht den Eindruck, dass sie diese Erkenntnis gewonnen hatte.
    »Warum ich?«
    Bruder Robert zuckte in seiner Kutte die Achseln. »Wer würde es sich anmaßen, die Wege des Herrn erklären zu wollen?«
    »Wollen Sie nicht heute Abend zum Gebet kommen?«, fragte Martin mit eifrigem Blick.
    Grace zögerte. Dann begriff sie mit plötzlicher Klarheit, dass dies vielleicht die Chance war, die sie erfleht hatte; eine Gelegenheit, Buße für ihre Vergangenheit zu tun, die Sünden ihrer Jugend reinzuwaschen. All diese Leben. Wollte Gott ihr Vergebung gewähren?
    Das würde die schreckliche Entweihung dieser wunderschönen Hymne erklären, und das Unwohlsein, das sie seit einiger Zeit immer wieder überfiel. Satan war in die Welt getreten und Gott hatte sie als Soldat für seine Armee auserwählt, um ihm zu trotzen.
    Trotzdem zögerte sie noch. Sie war dessen nicht würdig.
    »Ich … ich weiß nicht.«
    »Wenn nicht heute«, sagte Bruder Robert, »dann vielleicht Sonntagnachmittag. Hier, um drei Uhr.«
    »Hier?«
    »Martin hat uns den Keller des Hauses für unsere Gebetsversammlungen überlassen.«
    »Ich werde es versuchen.« Grace wandte sich um und ging durch den Korridor zurück. Sie musste hier weg, musste allein sein, die Dinge überdenken. Sie brauchte Zeit. »Nicht heute. Vielleicht Sonntag. Aber nicht heute.«
    »Sie können sich dem nicht entziehen«, hörte sie Martin hinter sich sagen. »Sie sind berufen! Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, sind Sie jetzt eine von uns!«
     
    2.
     
    Bruder Robert ging zum Fenster und sah zu, wie die pummelige kleine Frau über den Gehweg davonhastete.
    Martin stellte sich neben ihn. »Sie hat Angst.«
    »Die sollte sie auch haben.«
    »Ich habe keine Angst. Dies ist der Kampf des Herrn und ich bin bereit, für seine Sache zu sterben.«
    Bruder Robert sah zu dem jüngeren Mann hinüber. Martin war ein nützlicher Verbündeter – ergeben und eifrig –, aber manchmal zu eifrig. Seine militanten Ideen waren zeitweise schwer zu ertragen.
    »Ich begebe mich in mein Zimmer um zu beten, dass sie sich nicht unserer Sache verschließt.«
    »Werden Sie später zu Mittag essen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich faste heute.«
    »Dann werde ich ebenfalls fasten.«
    »Wie es dir beliebt.«
    Bruder Robert stieg in das Obergeschoss hinauf zu dem Raum mit den nackten vier Wänden und dem schmalen Fenster, in dem er sein Quartier aufgeschlagen hatte. In einer Ecke war Stroh auf dem Boden verstreut und eine Decke darüber gebreitet. Das war sein Bett. Er hob seine Kutte und kniete mit nackten Knien auf dem trockenen Reis, den er bei seiner Ankunft auf dem Parkett verstreut hatte. Er starrte aus dem Fenster auf das kalte Blau des Himmels hinaus. Bevor er mit seinen Gebeten begann, dachte er an das Kloster in Aiguebelle, an seine Zelle dort, und daran, wie gern er doch wieder dortwäre.

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