Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Der Chorleiter vertraute ihr offenbar nicht mehr genug, um ihr das Solo zu überlassen. Sie hatte ihn angefleht und ihm versichert, sie habe keine Ahnung, was da über sie gekommen war, und dass sie diese entsetzlichen Worte gar nicht singen wollte, aber das schien seinen Entschluss nur noch zu bestärken: Wenn sie nicht die Absicht gehabt hatte, über den Teufel statt über die Heilige Jungfrau Maria zu singen, wie wollte sie dann garantieren, dass das nicht auch in der Ostermesse geschehen würde?
Damit hatte er natürlich recht. Voll Scham hatte sie die Kathedrale verlassen.
Der junge Mann folgte ihr die Stufen hinunter auf die 31th Street.
»Es war nicht einfach, Sie zu finden, Grace. Sie müssen mir zuhören. Sie sind eine von uns!«
Das ließ sie innehalten.
»Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind, Mr Spano …«
»Nennen Sie mich bitte Martin.«
»… wie könnte ich dann eine von Ihnen sein?«
»Bruder Robert sagt, das, was da bei der Chorprobe geschehen ist, sei der Beweis. Sie haben die Gegenwart des Bösen gespürt. Sie wissen, er weilt unter uns!«
Grace verkrampfte sich. »Sind Sie ein Teufelsanbeter? Mit so etwas will ich nichts zu …«
»Oh nein, nein! Ich bin das genaue Gegenteil! Ich bin einer der Auserwählten!«
Die Auserwählten! Sie hatte diesen Titel in Bücherläden auf dem Titel eines Bestsellers gesehen.
»Auserwählt von wem?«
»Von unserem Herrn natürlich. Vom Heiligen Geist. Uns wurde offenbart, dass der Antichrist naht. Wir sind dazu bestimmt, die Warnung unter die Völker der Erde tragen. Wir sind dazu bestimmt, uns dem Bösen entgegenzustellen, wenn er sich offenbart.«
Das war verrückt.
»Ich bin nicht interessiert.«
Martin ergriff sachte ihre Hand. »Sie haben Angst. Ich selbst hatte zuerst auch Angst, als ich erkannt habe, was für eine Verantwortung Gott da auf meine Schultern gelegt hat. Aber es ist eine Verantwortung, der wir uns beide nicht entziehen können. Bruder Robert wird es Ihnen erklären.«
»Wer ist dieser Bruder Robert, von dem Sie da dauernd reden? Ich habe noch nie von ihm gehört.«
Martins Augen leuchteten. »Ein weiser und heiliger Mann. Er möchte Sie treffen. Kommen Sie mit mir.«
Etwas an dem Eifer des jungen Mannes ängstigte sie.
»Ich … ich weiß nicht.«
Er ergriff beschwörend ihren Arm. »Bitte. Es dauert auch nur eine Minute.«
Grace wollte vor diesem Mann davonlaufen, aber vielleicht bot er ihr ja Antworten auf die Fragen, die sie seit jener schrecklichen Nacht in der St. Patricks Kirche so quälten. Sie hatte seitdem nicht mehr ruhig geschlafen.
»Na gut. Aber nur für eine Minute.«
»Hier entlang, bitte.«
Er führte sie die 5th Avenue hinauf, an dem Art-Deco-Prunk des Empire State Buildings vorbei, dann nach Osten über die 37th Street nach Murray Hill mit seiner Ansammlung protziger Reihenhausbauten in verschiedenen Stadien der Sanierung. Auf halber Höhe zwischen der Lexington und der Park Avenue hielten sie vor einem dreigeschossigen Backsteingebäude an.
»Wir sind da«, sagte Martin.
Steinerne Stufen führten zur Eingangstür des Erdgeschosses. Eine kürzere Treppe führte rechts daran vorbei in den Keller. Ein handgemaltes Schild an der Kellertür verkündete »Gebetshaus«. Ein kahler, blattloser Baum stand rechts davon. Vertrockneter Efeu schlang sich an der Stuckfassade hoch.
»In welchem Stock ist Ihre Wohnung?«
»In jedem. Das Haus gehört mir.«
Grace überlegte kurz, dass sie sich da vielleicht mit einem Verrückten einließ, aber wenn das so war, dann mit einem gut-betuchten Verrückten.
Er führte sie zu der schweren eichenen Tür mit Butzenscheiben, dann weiter in die angenehme Wärme der Eingangshalle und einen schmalen Korridor entlang zu seinem Wohnzimmer. Ihre Schritte hallten auf dem blank polierten nackten Holzfußboden, die Wände und die Decke waren strahlend weiß gestrichen. Grace folgte ihm in ein hell erleuchtetes Wohnzimmer – so kahl und weiß und nackt wie der Flur davor, nur dass es hier noch einige wenige ultramoderne Möbel und einige abstrakte Gemälde an den Wänden gab.
Ein Mann stand am Fenster und sah auf die Straße hinunter.
Anhand seiner beigefarbenen Tunika, des breiten Ledergürtels und der langen, braunen Kapuze am Skapulier erkannte sie augenblicklich den Zisterziensermönch. Die Kapuze war zurückgeschlagen. Er stand barhäuptig da mit entblößter Tonsur, ein krasser Anachronismus zwischen all dem Chrom und Glas und der abstrakten Kunst, trotzdem machte er nicht
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