Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Notizbuch zuklappte, in dem er gelesen hatte, und das schwarze Büchlein darunter verschwinden ließ. Sie hatte ihn noch nie so abwesend, so nervös erlebt und das beunruhigte sie.
»Jim, was ist los?«
Er stand auf. »Nichts.«
»Das glaube ich dir nicht. Irgendetwas in diesen Notizbüchern macht dir zu schaffen. Rede mit mir drüber. Lass mich teilhaben.«
»Nein, nein. Mir macht nichts zu schaffen. Es ist einfach nur mühsam, sich da durchzufinden, das ist alles. Wenn ich das alles für mich verstanden habe, erkläre ich es dir. Aber jetzt … ich muss mich konzentrieren. Ich gehe mit diesen Sachen nach oben und du kannst den Sessel haben und lesen oder fernsehen.«
»Jim, bitte!«
Er drehte sich um und ging zur Treppe. »Es ist alles in Ordnung, Carol. Ich brauche nur etwas Zeit allein mit diesem Zeug.«
Sie bemerkte, dass er auf dem Weg aus dem Zimmer auch die Karaffe mit dem Scotch mitnahm.
6.
Die Zeit dehnte sich endlos.
Carol versuchte sich zu beschäftigen, aber es war nicht einfach. Die Unruhe über Jims Manie in Bezug auf diese Notizbücher und seine Vergangenheit nagte an ihr und machte das Lesen unmöglich. Und auch der neue Farbfernseher in der Ecke der Bibliothek bot keine wirkliche Abwechslung. Sie verbrachte den größten Teil des Abends damit, zwischen den Programmen hin und her zu springen. »Mit Schirm, Charme und Melone« schien ihr flach, »Die Beverly Hillbillies« und »Green Acres« wirkten noch alberner als sonst und selbst die »Jonathan Winters Show« konnte ihr kein Lächeln abringen.
Um elf Uhr hielt sie es nicht länger aus. Sie ging nach oben zur naturwissenschaftlichen Bibliothek, um Jim von diesen verdammten Notizbüchern wegzuholen.
Die Tür war verschlossen.
Bestürzt hämmerte sie dagegen.
»Jim! Geht es dir gut?«
Sie hörte das Rascheln von Papier, dann öffnete Jim die Tür – aber nur einen Spalt weit. Er stand in der Öffnung und hinderte sie am Eintreten. Seine Augen wirkten gehetzt.
»Was gibt’s denn?«, murmelte er.
Sie roch den Scotch in seinem Atem.
»Es ist schon spät.« Sie versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Lass uns für heute Schluss machen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich muss das hier klären.«
»Mach morgen früh damit weiter, wenn du ausgeruht bist. Vielleicht siehst du die Dinge dann mit anderen …«
»Nein! Ich kann das jetzt nicht so liegen lassen. Jetzt noch nicht. Fahr du nach Hause. Nimm den Wagen und lass mich hier. Ich komme später nach.«
»Du willst nach Hause laufen? Das kann nicht dein Ernst sein. Du frierst dich zu Tode!«
»Das sind doch nur ein oder zwei Kilometer. Die Bewegung wird mir guttun.«
»Jim, das ist doch verrückt! Was ist los? Warum kannst du mir nicht sagen, was …«
»Bitte«, unterbrach er. »Geh einfach nach Hause und lass mich hier. Ich will im Augenblick nicht weiter darüber reden.«
Damit schob er die Tür vor ihrer Nase zu. Sie hörte, wie sich der Schlüssel umdrehte.
»Na schön«, sagte Carol.
Sie ging nach unten, ergriff ihren Mantel und fuhr mit J. Carroll nach Hause. Irgendwo auf der Strecke verlor sich ihre Wut und sie war nur noch gekränkt. Und ihr war bange zumute.
Jim hatte verängstigt ausgesehen.
X
Dienstag, 5. März
1.
Du hörst die Klagelaute hinter den Mauern der Hospize, während du durch Straßburgs nebelige, schmutzverkrustete Gassen spazierst Vor zwei Monaten, als du aus Genua eingetroffen bist, waren die Straßen hier um diese Uhrzeit voller Menschen. Jetzt kann man die anderen, die unterwegs sind, an einer Hand abzählen. Im Gegensatz zu dir hasten sie voran und haben sich behelfsmäßig Tücher vor Mund und Nase gebunden, um sich vor der Krankheit und vor dem Gestank nach Verwesung zu schützen, der sich wie ein Leichentuch über die Stadt gelegt hat.
Furcht. Nackte Furcht hindert die wenigen verbliebenen Überlebenden der Bevölkerung daran, auf die Straße zu gehen. Sie haben sich hinter vernagelten Fenstern und verrammelten Türen verbarrikadiert und spähen durch die Spalten nach draußen. Sie fürchten, sich mit der Seuche anzustecken, denn sie wissen nicht, wodurch und warum sie entstanden ist. Sie fürchten, dass das Ende der Welt gekommen ist.
Vielleicht ist es das tatsächlich. Zwanzig Millionen Tote in den letzten vier Jahren, Bischof wie Bettler, Baron wie Bauer, denn die Pest frisst sich durch alle Gesellschaftsschichten. Es gibt nicht mehr genügend Landarbeiter, um die Felder zu bestellen, und nicht
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