Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Stadt gewohnt. Bis 1942. Dann hat er unvermittelt sein Haus in der Stadt verkauft und ist nach Monroe gezogen. Jetzt weiß ich warum: damit er sehen konnte, wie ich aufwachse.«
Der Gedanke daran erwärmte sein Herz.
Er hat mich nicht aufgezogen, aber er hat mich auch nicht vergessen, mich nie ganz aus seinem Leben gestrichen. Er war immer da und hat auf mich aufgepasst.
»Und weiter geht’s«, sagte Carol mit einem schwachen Lachen, das gezwungen wirkte. »Deine Jahre als Footballstar.«
Es folgte Seite um Seite mit Ausschnitten aus Zeitungen. Jedes Mal, wenn sein Name erwähnt wurde, und sei es nur bei der Auflistung der Spieleraufstellung, hatte Hanley den Artikel ausgeschnitten, Jims Namen unterstrichen und in sein Erinnerungsalbum geklebt.
Jim fiel auf, wie ironisch die Situation bei diesen Footballspielen gewesen war. Jonah und Emma hatten bei jedem Spiel auf der Tribüne gesessen. In Gedanken sah er, wie er sich zu den Zuschauern umdrehte und seinen Eltern zuwinkte – allen dreien. Denn direkt hinter ihnen saß Dr. Hanley, der begeistert die lokale Mannschaft anfeuerte – und dabei einen Spieler ganz besonders im Visier hatte.
Schräg. Und irgendwie auch anrührend.
Er überlegte, wie Hanley sich wohl bei den Personenschäden gefühlt hatte, die sein Sohn auf dem Spielfeld hinterließ. Tat es ihm leid wegen der verletzten Spieler, die er da sah, oder hungerte er nach mehr?
Nach der Footballzeit kamen Fotos, die aus den Jahrbüchern von Stony Brook herausgeschnitten waren, und später Artikel aus dem Monroe Express, mit James Stevens Autorenkürzel.
Carol drückte seine Schulter: »Ein Komplettsammler, was?«
»Ja. Da ich seine Notizbücher gelesen habe, habe ich das Gefühl, ihn zu kennen. Er war definitiv jemand, der die Dinge gründlich erledigte.«
Es klingelte an der Tür.
Wer zum Teufel –?
Jim ging zum Fenster und sah in die Einfahrt hinunter. Er erkannte den rostigen Käfer.
»Oh nein. Das ist Becker –«
»Er kommt ziemlich spät, oder?«
Dann fiel Jim wieder ein, was Becker recherchieren wollte, und er beschloss, doch besser mit ihm zu reden.
»Vielleicht hat er etwas über Jazzy Cordeau herausgefunden.«
Er hastete mit Carol im Schlepptau nach unten und riss die Tür auf, als es zum dritten Mal schellte. Becker stand auf der Veranda und feixte.
»Was gibt es Neues, Gerry?«
Becker grinste weiter, als er eintrat.
»Glaubst du immer noch, dass Jazzy Cordeau deine Mutter sein könnte?«
»Was hast du herausgefunden?«
»Dies und das.«
Jim spürte, wie sich seine Muskeln anspannten und unwillkürlich die Fäuste ballten. Es war ihm wichtig gewesen, dass er als erster die Identität seiner Mutter lüftete, bevor das jemand anderes tat – vor allem vor Becker. Und jetzt wusste Becker etwas und hielt ihn hin.
»Was?«
»Ich weiß, dass sie auf den Strich ging.«
Jim hörte, wie Carol neben ihm nach Luft schnappte. Seine Wut wuchs, angestachelt durch Beckers provozierenden Tonfall.
»Sehr komisch.«
»Nein. Es stimmt. Ich habe verlässliche Quellen dafür – zuerst von einem Sergeant Kelly von der Streife, und später von einem alten Kumpel von ihm, der damals bei der Sitte war. Sie hatte in den späten Dreißigern und während der Kriegsjahre den teuersten Arsch, der in New York für Geld zu haben war. Aber in ihrer Biografie gibt es vor dem Krieg eine Lücke, wo sie für fast ein Jahr vollkommen von der Bildfläche verschwunden war. Es heißt auch, dass sie in ihren letzten Jahren, als sie sich den Stoff in die Venen pumpte wie ich Pepsi trinke, manchmal davon erzählt hat, dass sie irgendwo ein Kind hat, aber niemand hat das je zu Gesicht bekommen. Der Zeitpunkt stimmt. Meinst du, du könntest das Kind sein, Stevens?«
Jims Ärger war kurz vor dem Siedepunkt angelangt. Er sah, wie sehr Becker die Situation genoss und zwang sich mit heftigster Willensanstrengung zu einem ruhigen Tonfall.
»Ist das alles, was du hast?«
»Nein. Ich habe noch ein Foto von ihr, aus der Zeit, als sie als Stripperin arbeitete.« Er zog das Foto aus einer Akte und reichte es Jim. »Was meinst du? Glaubst du, das könnte deine Ma sein?«
Jim starrte auf das Foto einer attraktiven jungen Frau in einem strassbesetzten String-Tanga. Sie war schön, aber sie konnte unmöglich seine Mutter sein. Denn sie war schwarz – unverkennbar schwarz.
Becker feixte. »Hab ich dich drangekriegt, was? Ich dachte wirklich, ich hätte sie gefunden, und dann stellt sich heraus, dass sie schwarz ist wie die
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