Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
müsse weitergehen«.
Irgendwann hatte sie aufgehört, auf eine Besserung ihres Befindens zu warten, und erst da fand sie einen Weg, ihr Leben wiederaufzunehmen. Zwar konnte sie weder ihre Trauer noch ihr Leben oder irgendetwas anderes kontrollieren (das wusste sie jetzt), aber sie konnte ihre Gefühle kontrollieren.
Sie war vorsichtig. Behutsam.
Zerbrechlich.
Das vor allem. Sie war wie eine antike Porzellanvase, die zersprungen und sorgsam wieder zusammengeklebt worden war. Von nahem war jeder Riss sichtbar, und sie durfte nur mit äußerster Vorsicht angefasst werden. Doch aus einer gewissen Entfernung und bei entsprechender Beleuchtung sah sie vollkommen unversehrt aus.
Jude unterwarf sich einer strikten Routine. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass ein Stundenplan sie retten konnte. Täglich wiederkehrende Pflichten bildeten den Rahmen ihres Lebens. Aufwachen. Duschen. Kaffee machen. Rechnungen bezahlen. In den Supermarkt gehen … zur Post … zur Reinigung. Tanken.
So absolvierte sie nun täglich Stunde um Stunde. Sie ließ sich die Haare schneiden und frisieren, obwohl ihr ihr Aussehen längst gleichgültig war; sie schminkte sich; sie zog sich sorgfältig an. Sonst hätten die Leute sie genauer angesehen, sich zu ihr gebeugt und gefragt: Wie geht es dir wirklich ?
Es war besser, gesund auszusehen und einfach in Bewegung zu bleiben. An den meisten Tagen funktionierte das. Sie wachte auf und stand die endlosen Stunden des Tages durch. In der Woche machte sie Frühstück für ihre Enkelin und fuhr sie zur Vorschule. Ein paar Stunden später holte sie sie wieder ab und setzte sie in der Tagesstätte ab, die es Zach ermöglichte, Medizin zu studieren.
Jude hatte gelernt, dass sie ihre Trauer in Schach halten konnte, solange sie sich auf das Einerlei des Alltags konzentrierte.
Zumindest meistens. Heute allerdings konnte nichts sie schützen, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte.
Denn morgen war Mias sechster Todestag.
Jude stand in ihrer Designerküche und starrte auf den Herd mit den sechs Kochplatten. Die Nachmittagssonne schien durchs Fenster und ließ die winzigen Bronzeflecken der Granitarbeitsfläche aufschimmern.
Miles kam zu ihr und küsste sie auf die Wange. Er hatte Jude den ganzen Tag nicht aus den Augen gelassen. »Zach und Grace kommen zum Abendessen«, erinnerte er sie.
Sie nickte. Ihr fiel es einen Moment zu spät ein, dass sie sich zu ihm umdrehen und ihn ebenfalls hätte küssen sollen. Aber ihr Timing war bei so vielen Dingen schlecht. Sie sah, wie er sich von ihr löste und die Distanz zwischen ihnen zunahm. Es war eine neu erlernte Fähigkeit von ihr: Sie konnte Lücken buchstäblich sehen.
Sie wusste, dass er von ihr und ihrer Ehe enttäuscht war. Doch sie wusste auch, dass er sie immer noch liebte. Zumindest wollte er das, und für Miles waren Wunsch und Wirklichkeit eins, weil er dafür sorgte. Er glaubte immer noch an sie und ihre Ehe. Jeden Tag wachte er auf und dachte heute ; heute würde sie wieder anfangen, ihn zu lieben.
Sie ging zum Kühlschrank, holte das Hackfleisch heraus und machte sich an die tröstende Aufgabe, Fleischbällchen vorzubereiten. In der nächsten Stunde ging sie ganz darin auf, Gemüse kleinzuschneiden, Fleischbällchen zu formen und alles zu braten. Als das Essen fertig war, roch es im ganzen Haus nach Tomatensauce mit Rotwein und pikanten Thymianfleischbällchen. Die Luft war feucht und süß, weil sie kochendes Wasser auf dem Herd hatte. Sie schaltete die Platte für die Sauce herunter und bereitete den Salat zu. Gerade als sie den Kühlschrank zudrückte, hörte sie einen Wagen heranfahren.
Sie strich sich das Haar hinters Ohr und spürte die spröden grauen Strähnen, die sich in ihr blondes Haar geschlichen hatten – sichtbare Zeichen ihres Verlusts. Als sie zum Wohnzimmer ging, sah Miles sie kommen, ging ihr entgegen und legte ihr den Arm um die Taille.
Grace betrat die sonnendurchflutete Eingangshalle. Sie sah wie ein kleiner Waldgeist aus mit ihren schmetterlingsbedruckten Caprihosen, der rosafarbenen Kittelbluse und den maisblonden Haaren, die in einem schiefen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Erst wenn man ihr schmales, herzförmiges Gesicht mit dem spitzen Kinn und der scharf geschnittenen Nase genauer betrachtete, sah man, dass das ernste Kind nichts Elfengleiches an sich hatte. Wie sie alle lächelte sie kaum und lachte nur leise. Dabei bedeckte sie den Mund mit der Hand, als wäre der Laut unangenehm.
Miles ließ Jude los,
Weitere Kostenlose Bücher