Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Studium jetzt nicht sausen lassen. Du bist doch fast fertig.«
»Morgen hab ich Lerngruppe. Wenn ich die verpasse, verhaue ich die Abschlussprüfung. Garantiert.«
»Ich hole sie ab und mache ihr Abendessen«, war Jude bereit. Sie wusste, das wurde von ihr erwartet. »Du lernst so lange, wie es nötig ist.«
Zach sah sie an.
Er vertraute ihr nicht im Umgang mit Grace, das war verständlich. Er erinnerte sich immer noch an die erste Zeit, als Jude vergeblich versucht hatte, in ihre Großmutterrolle zu finden. Damals war ihre Trauer noch wie ein scharfes Messer gewesen, das immer wieder unerwartet zustach und sie bluten ließ. Deshalb hatte sie oft einfach verschlafen und vergessen, Grace abzuholen. Einmal – das war der schlimmste Zwischenfall – war Miles abends nach Hause gekommen und hatte Grace allein in Mias Schlafzimmer gefunden, in einer schmutzigen Windel, während sie selbst zusammengerollt in ihrem eigenen Bett lag und mit einem Foto von Mia in der Hand weinte.
Sie alle wussten, dass Jude Grace nicht mal ansehen konnte, ohne von Trauer überwältigt zu werden. Alles, was Grace tat, erinnerte Jude an ihren Verlust, daher hielt sie Abstand von ihrer Enkelin. Jude schämte sich zutiefst wegen dieser Schwäche, aber sie konnte nichts dagegen machen. Allerdings hatte sie in den letzten zwei Jahren gelernt, damit umzugehen. Sie holte Grace regelmäßig vom Kindergarten und der Tagesstätte ab. Nur an den schlimmsten Tagen, wenn ihr alles wieder grau in grau erschien, kroch sie ins Bett und vergaß alles um sich herum. Vor allem ihre Enkelin.
»Mir geht’s jetzt besser«, sagte sie zu Zach. »Du kannst mir vertrauen.«
»Morgen ist …«
»Ich weiß, was morgen ist«, unterbrach Jude ihn, bevor er aussprach, was ihnen nur zu bewusst war. Morgen würde für sie alle ein schlimmer Tag sein. »Aber dieses Mal kannst du mir vertrauen.«
Es hätte regnen sollen. Die Landschaft vor ihrem Fenster hätte bedrohlich und schwarz sein sollen, wie auslaufende Tinte, mit riesigen dunkelgrauen Wolken, mit Krähen, die sich auf Telefonkabeln versammelten, und filigranen schwarzen Blättern, die über schmutzige Bürgersteige glitten. Wie eine Szene aus »Das letzte Gefecht«. Stattdessen war der sechste Todestag ihrer Tochter heiter und sonnig, mit einem tiefblauen Himmel, der Seattle in die schönste Stadt der Welt verwandelte. Der Sund glitzerte. Mount Rainier kam zum Spielen heraus und ließ seinen strahlend weißen Gipfel über der Stadt leuchten.
Aber Jude war kalt. Eiskalt. Um sie herum schlenderten Touristen in Shorts und T-Shirts mit Kameras um den Hals und Fast Food in den Händen über den Pike Place Market. Langhaarige Straßenmusiker steckten an allen Ecken ihr Territorium ab und bearbeiteten ihr Akkordeon, ihre Gitarre oder ihre Bongos. Einer hatte sogar ein Klavier.
Jude wickelte sich ihre dicke Kaschmirstola um den Hals und zog den Riemen ihrer Handtasche zurecht. Am Ende des Markts bot eine dreieckige Rasenfläche Platz für die Obdachlosen. Ein riesiger Totempfahl sah auf sie herab.
Jude überquerte die belebte Straße und ging einen steilen Hügel hinauf zu einem sektquirlförmigen Gebäude, das hoch in den blauen Himmel ragte.
»Mrs Farraday«, grüßte der Portier und tippte an seinen albernen Zylinder.
Da sie heute kein Lächeln zustande brachte, nickte sie nur und ging an ihm vorbei. Als sie auf den Aufzug warten musste, biss sie sich auf die Unterlippe und tappte ungeduldig mit dem Fuß. Sie nahm ihre Stola ab und warf sie sich wieder über. Als sie Dr. Blooms in strenger Eleganz gestaltete Praxis erreichte, fror sie so, dass sie meinte, ihren eigenen Atem zu sehen.
»Sie können schon hinein, Mrs Farraday«, sagte die Vorzimmerdame bei ihrem Erscheinen.
Jude brachte nichts heraus. Sie ging einfach durch das Wartezimmer in Dr. Blooms geschmackvoll eingerichtetes Sprechzimmer. »Machen Sie die Heizung an«, befahl sie ohne Gruß und ließ sich in den Sessel neben ihr sinken.
»Da ist eine Decke für Sie«, antwortete die Ärztin.
Jude griff nach der kamelfarbenen Mohairdecke und warf sie erschauernd über sich. »Was ist?«, fragte sie, als sie merkte, dass die Ärztin sie anstarrte.
Dr. Harriet Bloom nahm ihr gegenüber Platz. Sie wirkte so streng wie ihre Praxis: stahlgraue Haare, ein eckiges Gesicht und dunkle Augen, denen nichts entging. Heute trug sie ein Mantelkleid im Hahnentrittmuster mit schwarzer Strumpfhose und modischen schwarzen Pumps.
Als Jude irgendwann Miles’
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