Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
unablässigem Druck nachgegeben hatte, »sich professionelle Hilfe« zu suchen, hatte sie zuerst eine Reihe Psychiater, Therapeuten und Berater aufgesucht. Anfangs hatte es sie nur interessiert, ob sie berechtigt waren, ihr Beruhigungsmittel zu verschreiben. Nach und nach hatte sie die gefühlsduseligen Heilsversprecher und die Idioten aussortiert, die ihr dreist verkündeten, dass sie eines Tages wieder lächeln würde. Und wenn einer zu sagen wagte, die Zeit heile alle Wunden, stand sie sofort auf und ging.
2005 war nur noch Harriet Bloom geblieben – die selten lächelte und deren Verhalten darauf schließen ließ, dass auch ihr eine Tragödie widerfahren war. Außerdem konnte sie Beruhigungsmittel verschreiben.
»Was?«, wiederholte Jude und erschauerte erneut.
»Wir wissen doch, welcher Tag heute ist.«
Darauf fiel Jude keine schlagfertige Bemerkung ein, sosehr sie es sich auch wünschte. Sie konnte nur nicken.
»Haben Sie letzte Nacht geschlafen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Miles wollte mich festhalten, aber ich hab ihn weggestoßen.«
»Sie wollten keinen Trost.«
»Wozu auch?«
»Werden Sie den Todestag in irgendeiner Weise besonders gestalten?«
Diese Frage weckte Judes Zorn, und das war gut, besser als ihre bodenlose Verzweiflung. »Soll ich ihr vielleicht Luftballons in den Himmel schicken? Oder mich neben den Grabstein ins Gras setzen, wo doch nur ihr Körper liegt? Vielleicht sollte ich auch Gäste einladen und ihr Leben feiern … was jetzt vorbei ist.«
»Es gibt Menschen, die darin Trost finden.«
»Ja, ja. Aber ich nicht.«
»Wie ich schon sagte: Sie wollen keinen Trost.« Harriet notierte etwas auf ihrem Block. »Warum kommen Sie eigentlich noch zu mir? Sie halten Ihre Gefühle so fest unter Kontrolle, dass wir kaum Fortschritte machen können.«
»Weil ich die Pillen brauche. Das wissen Sie doch.«
»Wie geht es Ihnen wirklich?«
»Heute Abend … wird es schlimm werden. Die Erinnerungen werden kommen … und dann kann ich sie nicht mehr aufhalten. Ich werde denken, dass Miles sich geirrt hat. Dass sie wieder hätte gesund werden können oder dass sie wie eine Märchenprinzessin wieder aufgewacht wäre, wenn ich sie nur geküsst hätte. Ich werde mir vorstellen, wie ich versucht hätte, sie zu beatmen oder ihr auf die Brust zu schlagen. Verrückte Vorstellungen.« Jude sah auf. Durch ihre Tränen wirkte Dr. Blooms scharf geschnittenes Gesicht weicher. »Ich werde ein paar Schlaftabletten nehmen, und dann ist es schon wieder morgen. Und alles wird gut bis Thanksgiving, und dann kommt Weihnachten, und dann … ihr Geburtstag.«
»Zachs Geburtstag.«
Jude zuckte zusammen. »Ja. Aber er feiert ihn nicht mehr.«
»Wann hat Ihre Familie das letzte Mal etwas gefeiert?«
»Die Antwort kennen Sie doch. Wir sind wie die Menschen in diesem Körperfresserfilm. Wir tun nur so, als wären wir aus Fleisch und Blut. Aber warum müssen wir das alles wieder durchkauen? Sagen Sie mir einfach nur, wie ich diesen Tag durchstehe.«
»Sie fragen mich nie nach dem nächsten Tag. Warum eigentlich nicht?«
»Wie meinen Sie das?«
»Die meisten Patienten wollen wissen, wie sie wieder leben können. Sie wollen von mir einen Plan, wie sie wieder gesund werden. Aber Sie wollen einfach nur jeden Tag überleben.«
»Hal … lo? Ich bin weder bipolar noch schizophren, noch habe ich eine Borderline-Störung. Ich trauere. Meine Tochter ist tot, und ich bin verzweifelt. Da ist Heilung ausgeschlossen.«
»Das also ist die Überzeugung, an die Sie sich klammern?«
»Das ist die Wahrheit«, entgegnete Jude und verschränkte die Arme. »Hören Sie, Sie haben mir wirklich geholfen, wenn Sie das hören wollen. Vielleicht meinen Sie, mir sollte es mittlerweile bessergehen, weil sechs Jahre eine lange Zeit sind. Aber das stimmt nicht. Nicht, wenn das eigene Kind stirbt. Außerdem geht es mir besser. Ich kaufe ein. Ich koche. Ich treffe mich mit Freundinnen. Ich schlafe mit meinem Mann. Ich gehe zur Wahl.«
»Sie haben weder Ihren Sohn noch Ihre Enkelin erwähnt.«
»Meine Liste war noch nicht vollständig«, erwiderte Jude.
»Spionieren Sie immer noch Grace nach?«
Jude legte Decke und Stola ab. Jetzt war ihr warm, ehrlich gesagt schwitzte sie, und die Stola nahm ihr die Luft. »Ich spioniere ihr nicht nach.«
»Sie verstecken sich hinter Bäumen und beobachten sie bei ihrem Nachmittagsprogramm, aber Sie wollen sie weder anfassen noch mit ihr spielen. Wie würden Sie es denn nennen?«
Jude fing an, ihren
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