Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
ging zu seiner Enkelin, hob sie hoch und wirbelte sie herum. »Wie geht es heute meinem kleinen Püppchen?«
Jude zuckte zusammen. Sie hatte versucht, ihrem Mann diesen Kosenamen zu untersagen, aber er hatte erwidert, er könne nicht anders: Wenn er Grace anblicke, sehe er Mia, und dann rutsche er ihm einfach heraus.
Auch Jude sah ihre Tochter in Grace. Das war das Problem. Jedes Mal, wenn Jude dieses Kind anblickte, riss die Wunde wieder auf.
»Mir geht’s gut, Grandpa«, antwortete sie. »Ich hab in der Pause eine Pfeilspitze am Strand gefunden.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte Zach und kickte die Tür hinter sich zu.
»Aber ich hätte sie finden können«, widersprach Grace.
»Hast du aber nicht. Jacob Moore hat sie gefunden, und als er sie dir nicht geben wollte, hast du ihn auf die Nase geboxt.«
»Jacob Moore?«, fragte Miles und spähte durch die randlose Brille, die er neuerdings trug, zu seiner Enkelin hinunter. »Ist das nicht der Junge, der aussieht wie Bigfoot?«
Grace kicherte, hielt sich den Mund zu und nickte. »Er ist schon sieben «, flüsterte sie gewichtig. »Und geht zur Schule.«
»Jetzt ermutige sie nicht auch noch, Dad«, sagte Zach und warf seine Schlüssel auf den Garderobentisch. »Sie freut sich jetzt schon auf ihre Karriere als Preisboxerin.« Er hängte seinen Rucksack auf und verharrte kurz an dem grünen Sweatshirt, das immer noch an der Garderobe hing. Mit seinen langen Fingern strich er über den Stoff. Das taten sie alle: Wenn sie ins Haus kamen, berührten sie das Sweatshirt wie einen Talisman. Dann wandte er sich ab und steuerte das Wohnzimmer an.
Jude war so von ihrem eigenen Leben entfremdet, dass sie ihren Sohn nur aus der Distanz sah, selbst wenn er direkt vor ihr stand. Er musste schon wieder zum Frisör: Seine blonden Haare waren zu lang, ungekämmt und ungepflegt. Sein Kinn war stoppelig – an manchen Stellen wuchs sein Bart nicht wegen der Narbe. Er trug sein Hemd verkehrt herum, und das wahrscheinlich schon den ganzen Tag; und wenn er seine Schuhe auszog, passten seine Socken garantiert nicht zusammen. Doch das Schlimmste von allem war sein müder Blick. Sicher hatte er die ganze Nacht hindurch gelernt und war trotzdem in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um Grace Frühstück zu machen. Eines Tages würde er einfach umkippen.
»Willst du ein Bier?«, fragte Miles seinen Sohn und küsste Grace auf ihre rosige Wange.
»Ich darf kein Bier trinken«, erwiderte sie fröhlich.
»Sehr komisch, junge Dame. Ich hab deinen Daddy gefragt.«
»Ja, klar«, antwortete Zach.
Jude holte zwei Bier aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Weißwein ein. Dann folgte sie den anderen auf die Terrasse.
Sie setzte sich auf den Liegestuhl am Grill. Miles saß links von ihr, und Zach fläzte auf einem Stuhl am Tisch. Er hatte die Schuhe ausgezogen und die Füße auf den Tisch gelegt. Grace ging an ihnen vorbei und setzte sich allein an den Rand der Rasenfläche. Dann fing sie an, mit ihrem Handgelenk zu sprechen.
»Ich sehe, dass sie immer noch ihre unsichtbare Freundin hat«, bemerkte Miles.
»Normale Kinder haben unsichtbare Freunde«, entgegnete Zach. »Grace hat eine unsichtbare außerirdische Freundin, die als Prinzessin auf ihrem eigenen Planeten in einem Glas gefangen wurde. Und das ist noch das geringste unserer Probleme.« Er trank einen Schluck von seinem Bier und stellte dann die Flasche ab. »Ihre Lehrerin sagt, ihr fiele es schwer, Freunde zu finden. Sie lügt bei jeder Gelegenheit, und sie … sie fragt immer häufiger nach ihrer Mutter. Sie möchte wissen, wo sie ist und warum sie nicht bei uns wohnt.«
Jude richtete sich auf.
»Sie braucht uns noch mehr«, sagte Miles.
»Vielleicht sollte ich eine Zeitlang mit dem Studium aussetzen«, erwog Zach. Seine Stimme und seine Körperhaltung verrieten, dass er schon länger darüber nachdachte. »Das dritte Jahr soll verdammt hart sein, und ich rotiere sowieso schon. Entweder lerne ich oder beeile mich, bei Grace zu sein. Aber wenn ich bei ihr bin, kann ich vor lauter Erschöpfung nichts mehr mit ihr anfangen. Wisst ihr, was sie gestern Abend zu mir gesagt hat? ›Ich kann für mich selbst sorgen, Daddy, wenn du zu müde bist, Abendessen zu machen.‹« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Sie ist erst fünf, verdammt noch mal! Und macht sich Sorgen um mich. «
»Und du bist vierundzwanzig«, erwiderte Miles. »Und leistest verdammt viel, Zach. Wir sind stolz auf dich, stimmt’s, Jude? Du kannst das
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