Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
auf die Straße gelaufen und überfahren worden.«
»Diesmal war es anders«, widersprach Jude, aber schon als sie es aussprach, kamen ihr Zweifel. Seit Mias Tod waren so viele seltsame Dinge passiert. »Ihre Haare waren kurz und lockig. Und sie war sehr dünn.«
»Es war nicht Lexi«, sagte Miles ruhig. Sie liebte die Gewissheit in seiner Stimme. Manchmal brachte Miles sie mit seiner Ruhe zur Weißglut, aber jetzt wäre sie gern selbst so ruhig gewesen.
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Ihre Haftstrafe war im November zu Ende. Weißt du noch, wie angespannt wir damals waren, weil wir nicht wussten, ob sie hier auftauchen würde?«
Angespannt war noch untertrieben. Am Ende des letzten Jahres hatte Jude unter Strom gestanden wie ein Hochleitungskabel. Erst Mitte Januar hatte sie sich langsam wieder entspannt. Miles hatte sich eigentlich nach Lexis Verbleib erkundigen wollen, aber Jude hatte darauf bestanden, keinen Kontakt mit ihr herzustellen. In der Familie durfte niemand Lexis Namen laut aussprechen, geschweige denn, sich nach ihrem Verbleib erkundigen.
»Sie ist weder aufgetaucht, noch hat sie angerufen oder eine Nachricht geschickt. Und Zachs Briefe kamen ungeöffnet zurück«, sagte Miles beruhigend. »Lexi hat ihre Entscheidung getroffen. Sie glaubt, G-R-A-C-E ist ohne sie besser dran.«
»Das klingt, als wärest du anderer Meinung.«
»Ich war immer anderer Meinung. Das weißt du auch.«
Grace sah auf. »Hast du gerade meinen Namen buchstabiert, Grandpa?«
Miles lächelte angespannt seine Enkelin an. »Ich wollte dich testen. Gut gemacht, Püppchen.«
Grace strahlte ihn an. »Von der ganzen Klasse kann ich am besten buchstabieren. Ich krieg einen Preis dafür.«
»Sie kommt nicht zurück, Jude«, sagte Miles leise, beugte sich zu Jude und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »All das liegt hinter uns.«
Grace mochte Krankenhäuser. Hier waren viele Erwachsene, die ihr Bücher, Trinkpäckchen, Malpapier und Stifte schenkten, weil Grandpa ein Schiruhk war oder so ähnlich. Manchmal, wenn ein Arzt mit Nana und Grandpa allein sein wollte, ging sogar eine Schwester mit ihr im Krankenhaus spazieren. Am liebsten sah sich Grace die kleinen Babys in den durchsichtigen Plastikkästen an. Sie liebte ihre winzigen blauen oder rosafarbenen Mützchen.
Trotzdem fing sie nach ein paar Stunden an, sich zu langweilen. Ariel ließ sich nicht blicken. Seit dem Spielhaus hatte sie Grace nicht mehr besucht, und jetzt tat ihr schon die Hand weh, weil sie so viele Bilder ausgemalt hatte.
Sie wollte gerade quengeln – schon wieder –, als die Tür zu Nanas Zimmer aufsprang. Ihr Dad stürmte mit einem Stapel Bücher unter dem Arm herein. »Wie geht es ihr?«, fragte er Grandpa.
»Es geht mir gut«, antwortete Nana. Sie lächelte, wirkte aber irgendwie blass. Als ob sie müde wäre. »Ihr zwei braucht gar nicht erst mit eurer Fachsimpelei anzufangen. Ich hatte eine Panikattacke, die sich verdammt ähnlich anfühlte wie ein Herzanfall. Aber gleich werde ich entlassen. Eigentlich ist das Ganze nur peinlich.«
Dad legte seine Bücher auf den Stuhl neben den von Grace. Er wuschelte ihr durchs Haar und ging dann an ihr vorbei zum Bett. »Panikattacke? So was hattest du doch schon seit Jahren nicht mehr. Seit …«
Nana hob zittrig die Hand. »Wir alle hier kennen die Geschichte.«
»Sie meinte, Lexi gesehen zu haben«, erklärte Grandpa.
Daddy holte scharf Luft.
Das war neu. Nana hatte einen Grund, und der Grund hatte einen Namen. Grace kletterte wieder das Bettgestell hoch und klammerte sich an die oberste Stange. »Wer ist Lexi?«
Sie antworteten ihr nicht, sondern sahen sich nur an.
»Eine Halluzination?«, fragte Daddy leise.
»Das denkt dein Dad«, sagte Nana. »Hoffen wir’s.«
»Sie hat ihre Absichten sehr deutlich gemacht«, erinnerte Daddy. »Lexi, meine ich. Wahrscheinlich ist sie schon bei Eva in Florida.«
Grace streckte den Arm aus und schob ihre Hand in Daddys Hosentasche. Dadurch fühlte sie sich mit ihm verbunden, auch wenn er es kaum bemerkte. »Wer ist Lexi?«, fragte sie noch einmal.
»Mildreds Nichte ist vom College zurück«, bemerkte Daddy. »Die hat auch dunkelbraune Haare.«
»Dann war sie das sicher«, sagte Nana.
Grace wackelte ein bisschen am Bettgestell. Die Stangen klapperten. Es störte sie, dass niemand sie beachtete. »Ich hab ein Baby mit vier Armen gesehen«, warf sie ein. »Auf der Neugeborenenstation.«
»Warum gehst du nicht mit Gracie nach Hause, Zach?«, fragte
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