Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
sie vom Fahrrad stieg und den grauen Sandstrand mit den Haufen aus verwittertem Treibholz am Ufer überblickte, wurde sie von tausend Erinnerungen bestürmt.
Sie schloss ihr Rad am Ständer an, ging am Treibholz vorbei und dachte daran, wie Zach ihr das erste Mal gesagt hatte, dass er sie liebte. Sie waren genau hier gewesen …
Sie ging hinunter zum Kiesstreifen des Strands. Hier wurden die Steine von den Wellen makellos glattpoliert. Sie zählte die Häuser, daher wusste sie, wann sie ihr Ziel erreicht hatte.
Da war sie: die alte Tamarind Cabin. Irgendwann im ersten Highschool-Jahr hatte es hier eine Party gegeben. Davon hatte Jude nie erfahren.
Riesige Zedern säumten dicht an dicht eine Seite des Grundstücks. Rechts von ihr sah sie ein buntes Kinderspielhaus, das mit seinem grauen Spitztürmchen und einer leuchtend rosafarbenen Fahne wirkte wie ein Schloss. Auf der Terrasse direkt daneben kauerte wie ein kleiner Vogel ein Mädchen in gelben Kleidern. Es sprach wieder mit seinem Handgelenk.
Langsam näherte sich Lexi ihrer Tochter, achtete aber darauf, hinter den Bäumen verborgen zu bleiben. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass Zach wie ein wilder Stier aus dem Haus gestürmt kam und ihr befahl, sich zu entfernen.
Denn Lexi wollte sich wirklich nur vergewissern, dass Grace glücklich war. Solange Grace glücklich war, konnte sie sich an ihren Plan halten.
Sie wollte »Hey« sagen, aber ihre Stimme spielte nicht mit. Also räusperte sie sich und versuchte es noch einmal. »Hey, Grace.«
»Ich darf nicht mit Fremden reden.«
»Ich bin keine Fremde, Gracie. Ich kenne dich schon seit deiner Geburt.«
»Ach.« Grace legte den Kopf schräg und betrachtete Lexi. Sie schürzte die Lippen. »Ich hab dich in der Schule gesehen.«
»Genau.« Es kostete Lexi all ihre Kraft, einfach dort stehen zu bleiben. Am liebsten hätte sie sich auf Grace gestürzt, sie in die Arme genommen und um Verzeihung angefleht. Dennoch achtete sie darauf, im Schatten der Bäume zu bleiben, damit man sie vom Haus aus nicht sah.
»Du hast gewinkt. Wieso?«
Lexi trat einen Schritt näher. Ihr Herz raste. »Ich hab dich als Baby gekannt.«
»Kennst du auch meinen Daddy?«
Sie nickte.
Grace kniff die Augen zusammen. »Beweis es.«
»Mag er immer noch Schoko-Minz-Eiscreme und fasst keinen Kamm an?«
Grace kicherte, legte aber sofort die Hand über den Mund. »Nana sagt, mit den Haaren sieht er aus wie ein Käfer, was komisch ist, weil Käfer ekelig sind. Vor allem die, die auf Aa wohnen.«
Lexi unterdrückte ein Lächeln. »Darf ich zu dir kommen?«
»Klar.«
Lexi kam näher und blieb unter einem riesigen Baum stehen. »Wieso spielst du hier ganz alleine draußen?«
Grace verzog das Gesicht. »Mein Daddy ist weg. Schon wieder. Und Nana ist in der Küche.«
»Tanzt deine Grandma immer noch beim Kochen?«
Grace sah stirnrunzelnd zu ihr auf. »Sie hasst mich.«
»Deine Grandma Jude hasst dich?«
»Weil ich ausseh wie sie. «
Etwas Kaltes glitt Lexi übers Rückgrat. »Sie?«
»Daddys tote Schwester. Deshalb sieht Nana mich nie an. Das soll ich nicht wissen, aber ich weiß es.«
»Ehrlich?«
»Sie wurde von Piraten ermordet. Deshalb redet keiner darüber.« Grace seufzte. »Mein Daddy weint manchmal auch, wenn er mich ansieht.«
»Du siehst auch wirklich aus wie Mia«, sagte Lexi leise.
»Hast du Daddys Schwester gekannt?«
»Ja«, flüsterte Lexi. »Sie war …«
»Hey, hast du einen Hund?«
Der abrupte Themenwechsel ließ Lexi aufschrecken. »Nein. Ich hatte nie einen.«
»Ich wünsch mir einen Hund. Oder vielleicht ein Streifenhörnchen.«
»Hast du deinen Dad gefragt, ob du ein Haustier haben kannst?«
»Gestern Abend gab’s Klapperschlange zum Essen. Mit Erdnüssen.«
Irgendwas lief hier falsch. Grace behauptete alles Mögliche, aber wieso? Hatte sie Angst, weil sie über Zachs Gefühle gesprochen hatten? Und Lexi äußerte das Einzige, was ihr dazu einfiel: »Ich hab mal Straußenfleisch gegessen.«
»Wow.«
»Dein Daddy ist also nicht hier?«
»Nein. Ich bin ja schon groß. Langsam kann ich immer allein zu Hause sein. Ich kann schon allein baden und alles. Gestern Abend hab ich ganz allein Essen gemacht.«
»Ist er oft weg?«
Grace nickte.
Lexi betrachtete Grace’ hinreißendes Gesicht mit den traurigen grünen Augen und der blassen Haut und fragte sich, ob auch sie ihr irgendwas vererbt hatte. »Hast du Freunde in der Schule?«
»F … freunde?«, wiederholte Grace und grinste dann. »Unheimlich
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