Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
einen schweren Tag. Soll ich dir jetzt was aus Der geheime Garten vorlesen?«
»Aber willst du nichts von meiner neuen Freundin hören?«
»Der Filmstar, der einen Strauß gegessen hat und ein Zauberrad fährt?«
»Vielleicht ist sie nicht in echt ein Filmstar. Vielleicht ist sie eine Agentin, die …«
»Das reicht, Gracie«, sagte er wieder und schlug das Buch auf. »So, wo waren wir?« Aber das wusste er; er wusste es immer. Grace lächelte schläfrig und murmelte: »Colin geht es besser.«
»Ah, ja.« Daddy schlug die richtige Seite auf und fing an zu lesen. »Eins der seltsamen Dinge im Leben ist, dass man nur hin und wieder das sichere Gefühl hat, für immer zu leben …«
Grace steckte den Daumen in den Mund und lauschte dem melodischen Klang seiner Stimme.
»Sie schreien sie an, Scot. Und sie ist immer allein. Niemand kommt raus und spielt mit ihr. Offenbar ist ihre einzige Freundin unsichtbar.«
»Mein Sohn hat auch einen eingebildeten Freund, und zwar eine Ente. Ich frage mich, was das über ihn aussagt.«
»Ich meine es ernst.« Sie hatte stundenlang mit sich gerungen, doch ganz gleich, wie oft oder wie nachdrücklich sie sich einredete, Grace sei besser ohne eine vorbestrafte Mutter dran, konnte sie doch nicht das aufkeimende Gefühl in ihr niedertrampeln, dass sie ihre Tochter nie hätte verlassen dürfen. Es war, als würde sie einem Tornado die Tür öffnen: Man konnte weder den Schaden verhindern, den er anrichten würde, noch die Tür wieder schließen.
Verlassen. Dieses Wort fraß sich durch Lexis gute Absichten bis auf den Grund ihrer Seele. War sie in all ihrem Bemühen, nicht wie ihre Mutter zu sein, doch so geworden? Und wieso stellte sie sich die Frage erst jetzt?
»Sie haben recht.« Scot schob seinen Stuhl zurück. Die Metallräder quietschten über das Linoleum. »Das ist eine sehr ernste Sache. Aber setzen Sie sich doch. Sie hüpfen hier herum wie ein aufgeregtes Huhn.«
Fügsam setzte sie sich.
»Erzählen Sie, Lexi.«
Sie holte tief Luft. »Grace aufzugeben war das Schmerzhafteste, was ich je in meinem Leben getan habe.« Sie verstummte. Es war schwierig, es auszusprechen, selbst nach jahrelanger Therapie. »Ich konnte nur weitermachen, weil ich eine Vorstellung von ihrem Leben hatte. Ich sah rosafarbene Kleidchen und Kindergeburtstage mit Ponys vor mir, und Gutenachtgeschichten und Weihnachten mit der ganzen Familie. Ich sah ein kleines Mädchen vor mir, das in dem Bewusstsein aufwächst, geliebt zu werden und in eine Familie zu gehören.«
Sie blickte auf. »Ich habe ihnen vertraut , Scot«, sagte sie mit wachsendem Zorn. »Jedem Einzelnen von ihnen: Miles, Jude, Zach. Ich vertraute darauf, dass sie ihr die Kindheit schenken würden, die ich nie hatte. Und wissen Sie, was ich entdeckt habe? Ein einsames kleines Mädchen, dessen Daddy keine Zeit hat … ein Mädchen, das wegen nichts angeschrien wird … das ganz allein spielen muss. Ein Mädchen ohne Freunde …«
»Was wollen Sie tun?«
Sie stand auf und wanderte erneut durchs Zimmer. »Ich war im Gefängnis, ich bin eine vierundzwanzigjährige Vorbestrafte ohne Joberfahrung. Zwar hab ich in der Gefängnisbücherei gearbeitet, und vorher in einer Eisdiele und hab im Sommer auch Himbeeren gepflückt. Ich bin pleite. Was kann ich also machen?«
»Hat Ihre Tante Eva Geld gehabt, als sie Sie bei sich aufnahm?«
Lexi verharrte und starrte aus dem Fenster der Kanzlei. Draußen half eine junge Mutter ihrer rothaarigen Tochter auf einen Trinkbrunnen. »Sie hatte einen Job und eine Unterkunft.«
»Sie haben einen College-Abschluss und können hart arbeiten. Außerdem sind Sie einer der anständigsten Menschen, die ich kenne. Sie wissen mehr über Liebe – und fehlende Liebe – als die meisten von uns. Also frage ich Sie noch einmal: Was wollen Sie tun? Es ist ganz einfach: Entweder Sie gehen, oder Sie bleiben.«
»Und wenn ich bleibe?«
»Würden wir den Antrag stellen, die Sorgerechtsregelung zu ändern. Wir würden entweder geteiltes Sorgerecht oder zumindest Besuchsrecht fordern.«
»Unter Aufsicht, nehme ich an. Schließlich war ich im Knast.«
»Sie sind nicht gewalttätig, Lexi«, erwiderte er. »Sie sind nicht wie Ihre Mutter. Zugegeben, am Anfang könnten Sie unter Aufsicht gestellt werden. Ich sag nicht, dass es einfach würde, aber zumindest hätten Sie dann Besuchsrecht, und es kann gut sein, dass wir auch geteiltes Sorgerecht erwirken. Alleiniges Sorgerecht halte ich für ausgeschlossen, aber Sie sind ihre
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