Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
sie war. In der Nähe des Wartezimmers.
Molly versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Ich hab dir Wäsche zum Wechseln mitgebracht. Eine Zahnbürste. Was mir so einfiel.«
Jude nickte. Sie wollte hier nicht stehen und so tun, als wäre sie noch funktionsfähig, aber sie konnte sich auch nicht rühren.
Im Wartezimmer etwas weiter den Gang hinunter sah sie eine Gruppe Frauen zusammensitzen, die Jude aus sicherer Distanz beobachteten. Es waren Frauen, die sie von der Insel kannte, Frauen, mit denen sie Wohltätigkeitsveranstaltungen geplant, Tennis gespielt, zu Mittag gegessen hatte. Mütter von Freunden der Zwillinge. Freundinnen. Nachbarinnen und Bekannte. Sie hatten von dem Unfall gehört und wollten nun helfen. Die moderne Version eines Quiltzirkels. In schweren Zeiten kamen die Frauen zusammen, um einander zu helfen. Jude wusste das, weil sie dazugehörte. Wenn ein anderes Kind umgekommen wäre, hätte Jude alles stehen und liegen lassen, um ihre Hilfe anzubieten.
Sie brauchten es, ihr zu helfen, das sah Jude, aber auch das konnte sie nicht mehr berühren.
Wie konnte sie ihnen verständlich machen, dass die Frau, die sie gewesen war, nicht mehr existierte? Sie war nicht mehr die Frau, die mit ihnen befreundet gewesen war.
Sie war nicht die belastbare Frau, für die sie sich immer gehalten hatte. Als Soldat im Krieg würde sie nicht die Truppen anführen, um einen Hügel zu erstürmen. Sie würde ihren Körper nicht einer Granate entgegenschleudern.
Sie würde eher erstarren.
Es gab kein passenderes Wort dafür. Ihre gesamte Kraft – und diese Kraft war so winzig und schlüpfrig wie ein Guppy in ihren Händen – nutzte sie dafür, ihre Gefühle unter Verschluss zu halten. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie Mitgefühl ertragen oder andere Menschen an ihren Gefühlen teilhaben lassen sollte. Sie brauchte alles in ihrem Inneren, um so zu tun, als könnte sie mit dieser Situation »umgehen«.
»Sie sind deinetwegen hier, Jude«, sagte Molly. »Wir alle. Wie können wir dir helfen?«
Hilfe. Frauen halfen einander, auch wenn jemandem nicht zu helfen war.
Sie holte tief Luft und versuchte, ihre Schultern zu straffen. Der Versuch schlug erbärmlich fehl, und am Ende krümmte sie sich innerlich wieder wie ein dünner Holzspan. Doch sie umklammerte Mollys Hand und ging, einen Schritt nach dem anderen, auf die Frauen zu.
Als sie das Wartezimmer erreichte, standen alle gleichzeitig auf, wie ein Publikum.
Jude trat zu ihnen, ließ sich von ihnen umringen und umarmen. Sie wünschte sich, sie würden nicht weinen, aber auch das war vergeblich, und die Tränen der Frauen halfen ihr, ihre eigenen zurückzuhalten.
Solange sie konnte, blieb Jude umringt von den Frauen, die sie jahrelang geprägt hatten. Doch fühlte sie sich schrecklich allein. So schnell wie möglich löste sie sich von ihnen, noch zittriger, noch verletzlicher als zuvor, und floh zurück in die Stille von Zachs Zimmer.
Die nächsten zwanzig Stunden wagte sie sich nur noch selten auf den Gang. Sie wusste, dass dort andere warteten und sich flüsternd miteinander unterhielten – Molly und ihr Mann Tim, ein paar ihrer Nachbarn und ihre Mutter, aber das war Jude ganz gleich.
Sie und Zach saßen zusammen, starrten beide benommen zum Fernseher in der Halterung über ihnen und sagten kaum etwas. Mias Abwesenheit war in dem antiseptisch riechenden Zimmer deutlich spürbar, und nur darüber hätten sie sprechen wollen. Doch es war zu schmerzhaft und zu anstrengend, daher saßen sie schweigend da. Den Sender wechselten sie nur, wenn Nachrichten kamen. Die Medien hatten sich auf die Unfallmeldung gestürzt, und weder Jude noch Zach konnten die Berichterstattung darüber ertragen. Glücklicherweise wiegelte Miles alle Anrufe mit einem ruhigen »Kein Kommentar« ab.
Am Dienstagmorgen endlich wurde Zach entlassen.
Auf der Heimfahrt sprach Miles ununterbrochen mit ihnen. Er versuchte »weiterzumachen«, ein neues Kapitel ihres Lebens anzufangen, aber weder Jude noch Zach waren dazu bereit. Jeder von Miles’ Konversationsversuchen traf auf dumpfes Schweigen, bis er es schließlich aufgab und das Radio anschaltete.
» … auf Pine Island einen Autounfall …«
Abrupt stellte Jude es wieder aus, und das Schweigen breitete sich erneut zwischen ihnen aus. Sie sank auf ihrem Ledersitz zusammen, dessen Heizung hochgefahren war, um ihre innere Kälte zu vertreiben, und starrte abwesend aus dem Fenster, während die Fähre anlegte. Sie war so in
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