Wie der Earl das Sandwich entdeckte (German Edition)
immer wieder in der Literatur auftaucht, findet sich dort kein Wort über jenen ominösen Salat, der hier erfunden worden sein soll. Nathaniel Newnham-Davis besuchte die »Eremitage« um 1900 und berichtet in seinem Gourmet’s Guide to Europe recht ausführlich darüber. Die Kellner trugen tatarische Tracht, die Speisekarten waren auf Russisch, aber die Küche war eindeutig französisch. Die Karte war eingeteilt in »Eier und Fisch«, »kalte Fleischgerichte« und »warme Fleischgerichte«. Keine Salate. Ein mehrgängiges Menü in der »Eremitage« konnte damals wie folgt aussehen: Consommé Bariatinsky, Petits Patés (kleine Pasteten), Esturgeon en Vin de Champagne (Stör in Champagner), Selle de Mouton Nesselrode (Hammelrücken), Punch Imperial (ein Sorbet), Becasses et Cailles (Schnepfen und Wachteln), Salade et cocombres salés (Salat und Salzgurken), Bombe en surprise (Eisbombe), Dessert. Es gab also einen Gang mit Salat, allerdings hätte man einen derart reichhaltigen Salat mit Mayonnaise sicher nicht am Ende des Menüs serviert. Höchstwahrscheinlich gehörte er ebenso wie Kaviar zur Auswahl an zakuski , kleinen russischen Appetithäppchen, die vor der Vorspeise gereicht werden, und erhielt seinen Namen erst nach dem frühen Tod Oliviers.
Vielleicht findet sich der ein oder andere Hinweis auf Olivier in russischer Literatur des 19. Jahrhunderts, aber die kann ich leider nicht lesen. Erfolgreicher ist die Suche nach »seinem« Salat. Verblüffenderweise findet sich ein sehr ähnliches Rezept in der Erstauflage des berühmten russischen Kochbuchs von Helene von Molochowetz aus dem Jahr 1861, und zwar unter dem Titel Vinegrety . Die wesentlichen Zutaten: Wild oder Wildgeflügel, Rindfleisch oder gekochter Fisch, Kartoffeln, hart gekochte Eier, Hering, Gurke, Kapern, Sauerkraut, Oliven. Angemacht wird der Salat bei ihr mit einem Dressing aus Essig, Öl und Senf. Das ist noch nicht ganz unser »Russischer Salat«, aber doch fast. Der Name vinegrety verrät eindeutig die französische Herkunft des Rezepts, denn das heißt Vinaigrette. Eigentlich war das auch damals schon die Bezeichnung für eine kalte Sauce aus Essig und Öl, mit der man in Frankreich nicht nur Salat, sondern kalte Fleisch-und Fischgerichte anrichtete; dieses Gericht hieß vollständig Boeuf en vinaigrette , kurz eben vinaigrette, und gehörte spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts zum Standardrepertoire jedes französischen Kochs, wenn auch nicht immer mit einem Dutzend Zutaten. Das deutsche Universal-Lexikon der Kochkunst gibt zu Vinaigrette noch 1890 die Erläuterung »eigentlich eine Art Fleischsalat«.
Dann war Olivier wenigstens der Erste, der dieses Gericht mit Mayonnaise serviert hat? Der französische Spitzenkoch Urban Dubois, Küchenchef am Hof von Kaiser Wilhelm I., veröffentlichte schon 1856 ein Kochbuch mit einem Rezept für Salade russe mit Senfmayonnaise – es enthielt jedoch kein Fleisch, sondern gekochtes Gemüse, Kartoffeln, Sardellen und Kapern. Sollte der ganze Ruhm des Monsieur Olivier darauf beruhen, dass er es verstand, eine gute Mayonnaise zusammenzurühren? Als Einziger in ganz Moskau oder gar in ganz Russland? Wo doch jeder wohlhabende russische Haushalt einen französischen Koch verpflichtet hatte …
Noch mysteriöser ist der Vorwurf, ein Koch der »Eremitage« habe das geheime Salatrezept gestohlen und später sogar gegen Geld weitergegeben. Die Komposition an sich war für jeden Besucher des Restaurants nachzuvollziehen, folglich könnte es nur um die Sauce gehen. In seiner Glanzzeit arbeiteten unter Olivier drei Küchenchefs und über dreißig weitere Köche. Welchen Sinn hätte es, drei Stellvertreter in der Küche zu haben, wenn der Chef doch ständig anwesend sein muss, weil er der Einzige ist, der das Rezept für die Salatsauce kennt? In einer Zeit ohne Kühlschränke musste Mayonnaise zumindest in den wärmeren Monaten ja stets frisch zubereitet werden. Das Beste an dieser Story ist aber, dass der Spion Iwan Iwanow heißen soll – für jeden Eingeweihten ist dieser Name die Pointe schlechthin und als ich dahinterkam, habe ich erstmal schallend gelacht. Iwan war früher der häufigste männliche Vorname in Russland, Iwanow der zweithäufigste Familienname. Wann immer in einem Roman oder im Alltag ein unverfänglicher Name für eine fiktive Person oder einen Unbekannten gebracht wurde, nannte man ihn Iwan Iwanow. Das konnte dann jeder sein oder auch niemand. Und so taucht der Name bis heute immer wieder in
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