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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasa Stanisic
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diejenigen, die keine ehemalige fachpolitische Beraterin für das Lokalkomitee des BdKJ als Mutter hatten und deren Opa nicht alles erklären konnte. Mit unserem Tito geschah etwas anderes. Unser Tito starb. Noch mal. Indem man seine Bilder aus den Klassenzimmern nahm, starb Josip Broz Tito zum dritten Mal.
     
    Edin tippte mir gegen die Schulter. Psst … Aleks, was hast du Vukoje Wurm geschrieben?
    Nichts. Ich habe seine Rechtschreibfehler verbessert.
     
    Seinen ersten Tod hatte Tito am 4. Mai 1980 um 15.05 Uhr. Da starb aber nur sein Körper, und Jahr um Jahr stehen am 4. Mai um 15.05 Uhr alle Menschen auf der Welt und im All still und gedenken Tito, außer in Amerika und in der Sowjetunion und auf dem Jupiter, weil auf dem Jupiter kein Leben
möglich ist. Sirenen jaulen, Autos fahren nicht weiter, und ich krame in meinem Gedächtnis nach einem passenden, traurigen Marx-Zitat, um die Schweigeminute zu beschließen und irgendjemanden zu beeindrucken. Mir ist nie eines eingefallen.
    Karl Marx hat keinen einzigen traurigen Satz geschrieben.
    Nach seinem ersten Tod zog Tito mit einem Köfferchen Reden und Aufsätze in unsere Herzen ein und baute sich dort eine pompöse Villa aus Ideen. Opa Slavko beschrieb die Villa so: die Wände bestehen aus Wirtschaftsprojekten, die Dachziegel aus Friedensbotschaften und durch die roten Fenster sieht man auf einen Garten mit Mohn, blühenden Zukunftsparolen und einem Brunnen, aus dem man unendlich viele Kredite schöpfen kann. Mit den Jahren machten immer mehr Leute, was sie wollten und interessierten sich immer weniger für Titos Ideen, und wenn sich niemand für eine Idee interessiert, dann ist die Idee tot.
    So starb Tito das zweite Mal.
    Aber er lebte weiter in Gedichten und Zeitungsartikeln und Büchern. Bald wurde es aber richtig, diese Bücher nicht zu besitzen und die Gedichte nicht gelesen zu haben. Dann wurde es noch richtiger, die Bücher ins Regal zu stellen, die früher verboten waren, und irgendwann wurde es am richtigsten, Zeitungsartikel und Bücher selbst zu schreiben, die früher verboten gewesen wären. Nach Opas Tod war es meine Mutter, die mir von all diesen Dingen erzählte. Sie war Politologin und kannte sich aus. Opa sagte: Marxistin, und freute sich darüber. Sie selbst freute sich nicht. Wenn man mich früher fragte, was meine Mutter von Beruf sei, zögerte ich keine Sekunde: Fachpolitische Beraterin für das Lokalkomitee des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens!, rief ich tantetaifunschnell. Sie schreibt die Reden für die Sekretäre und den Präsidenten des Lokalkomitees, diese Hohlköpfe. Hohlköpfe sagte ich nicht laut, ich wusste aber, dass sie das waren, weil sich meine Mutter hunderte Male über das vielförmig Hohle an ihnen beschwert hatte. Das leere Gehirn, das lückenhafte
Gedächtnis, die Kluft zwischen Versprechen und Machen, der löcherige Geldbeutel, und: Saufen wie die Löcher, aber kriegen keinen vernünftigen Satz aufs Papier.
    Wenn man mich heute fragt, was meine Mutter von Beruf ist, sage ich meistens: müde. Am müdesten ist man, wenn man immer zu viel arbeitet und immer nur davon spricht, dass man immer zu viel arbeitet. Arbeit macht alt. Meine Eltern kommen von der Arbeit nach Hause und reden über die Arbeit. Vater zieht sein Hemd aus und wäscht sich im Bad die Füße. Er arbeitet in einer Fabrik, in der Holz zu Möbeln gehauen wird, ist aber leider kein Holzfäller, sondern sitzt zwischen Taschenrechnern in einem Zimmer mit Tischkalender und trägt ein Hemd. Zu Hause trägt er nie Hemden und arbeitet in seinem Atelier, nennt das aber nicht Arbeit. Er sagt, er kann Zahlen noch weniger ausstehen als unsere Regierung. Vater putzt seine Brille und verzieht das Gesicht, wenn er aus kurzer Distanz auf den Brillengläsern nach Flecken sucht. Wenn ich so alt bin wie er, habe ich sein graues Haar an den Schläfen. Wenn ich so alt bin wie meine Mutter, werde ich auch eine Stunde lang ununterbrochen von Sorgen erzählen können, nur werden das nicht meine eigenen sein. Mutter hatte eigentlich Eiskunstläuferin werden wollen. Jetzt läuft sie sich in unserem Gericht müde. Sie sagt: diese Gesetzgebung ist fast schon sympathisch, so unbeholfen ist sie. Abends schmiert sie Brote für die Arbeit: Ich schmiere dann mal die Brote für die Arbeit – immer sagt sie genau diesen Satz, das ist wie Vaters Füßewaschen. Ich frage mich, warum sie die Butter nicht für sich und Vater aufs Brot streicht. Eine Arbeit, rief ich einmal, muss doch nichts

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