Wie die Libelle in der Wasserwaage
kugelschreiberbekritzelten Leukoplaststreifen beklebt. Hier würde ich nicht als Notfall landen wollen. Unter gar keinen Umständen!
Dann wurde beschlossen, dass Corinna zum Röntgen müsse. Eine Röntgenassistentin holte sie ab, das sei nichts für mich, erklärte sie in barschem Ton, also blieb ich wartend zurück. Das entstandene Handlungsvakuum nutzte die Notaufnahmeschwester und bat mich, ihr bei der Anmeldung der Patientin behilflich zu sein. Sie öffnete die entsprechende Maske auf dem Computer und fragte zunächst die üblichen Dinge ab, Name, Geburtsdatum, Adresse. Heimatland? Deutschland, antwortete ich routiniert. Sie sah irritiert auf. Westdeutschland oder Ostdeutschland, fragte sie. Ich erstarrte schockiert. Es gibt nur noch ein Deutschland, entgegnete ich. Seit fast zwanzig Jahren, fügte ich spitz hinzu. Sie sah mich fragend an. Ihr Computerprogramm konnte mit meiner Aussage offensichtlich genauso wenig anfangen, wie sie selbst.
In diesem Moment kam der Arzt zurück ins Zimmer. Sie wies auf ihren Computer und erläuterte ihm sowohl die diffizile Situation als auch meine konfuse und offensichtlich unwillige Art der Kooperation. Er löste das Problem jovial, indem er irgendetwas in der Computermaske ankreuzte. Und ich war offensichtlich in Afrika oder in einer anderen Zeitzone gelandet.
Die Röntgenergebnisse ließen darauf schließen, dass Corinna von einem Knochenbruch verschont geblieben war. Leider hatte sie sich allerdings wohl einen Bänderriss zugezogen. Blöde Sache, unter sechs Wochen Humpeln kam sie da nicht raus.
Man könne das Ganze operieren, meinte der Arzt. Andererseits könne man das freilich auch lassen. Das Resultat sei mehr oder weniger das gleiche.
Was gab es da zu überlegen? Eine OP in diesem abgewrackten Krankenhaus? Bewahre! Corinna und Herbert waren ganz meiner Meinung. Sie erhielt eine Plastikschiene, eine Tube mit Salbe und die Anweisung, den Fuß wo immer möglich hochzulegen. Laufen durfte sie, das sei kein Problem. Na bitte. Alles halb so wild!
Mit dem Taxi fuhren wir zurück zum Aufstiegspunkt unserer Herberge und verfrachteten sie dann mühevoll, Stufe für Stufe, nach oben. Herbert war ganz Gentleman. Er stützte sie und half ihr wie ein Ritter. Vermutlich fühlte er sich prima in dieser Rolle. Überlegen und so. Was für ein Idiot. Aber vielleicht würden sich die zwei jetzt, wo sein Beschützerinstinkt geweckt war, endlich näher kommen.
Als wir nach gefühlten Stunden oben ankamen, verfrachteten wir die Ärmste gleich ins Bett. Die anderen hatten Nudeln gekocht, davon brachten wir ihr einen Teller, und dazu eine Flasche Wein. Alles würde schließlich gut werden. Das erklärte ich auch Herbert, und außerdem, dass ich nach all der Aufregung dringend meine Ruhe brauche, gute Nacht, also. Die anderen vergnügten sich auf der großen Terrasse vor den Steinhütten, denn der Abend war noch jung.
Ich setzte mich allein und unbemerkt noch ein wenig auf eine kleine Stufe, die weit abseits seitlich davon lag, und genoss die phantastische Aussicht. Mein Magen knurrte, außer dem altbackenen Weißbrot zum Frühstück hatte ich nichts weiter zu mir genommen. Und das Nudelgericht meiner Kommilitonen hatte allzu verkocht und alles andere als appetitlich ausgesehen, da verzichtete ich lieber aufs Essen. Wenn ich mir schon meine Figur verderbe, dann wenigstens mit Sachen, die mir schmecken. In der Küche fand sich kein Wein mehr, nicht einmal die Neige in einer Flasche. Alles war leergetrunken, den Rest hatten sie wohl draußen bei sich. Ihre Gesellschaft scheute ich aber. Fröhlich angeheiterte Studenten, mitten dazwischen der schwule Willy und der ewig geile Hagen, das war alles, was ich jetzt brauchte.
Völlige Trostlosigkeit ergriff mich. Ich fühlte mich so einsam wie nie zuvor. Das konnte doch nicht sein, oder? Also raffte ich mich irgendwann auf. Denn man darf sich niemals hängenlassen! Ganz egal, was passiert. Niemals! Ich stieg die vierhundert Stufen hinunter, weil mich Hunger und Durst an die Hand nahmen. Sie führten mich zu Salvatore und seiner Pizzeria.
*
Salvatore war ein junger Kerl, höchstens Ende zwanzig, schätzte ich. Ein typischer Italiener, gutaussehend, dunkelhaarig, glutäugig, selbstbewusst und gockelhaft. Also genau mein Typ.
Und ganz offensichtlich gefiel ich ihm auch, er umschwärmte mich den ganzen restlichen Abend und spulte das gesamte Flirt-Repertoire italienischer Männer ab. Einerseits amüsierte mich die Vorhersehbarkeit dieses Rituals,
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