Wie die Libelle in der Wasserwaage
verfallen, mit kleinen Zellen, in denen Feldbetten für uns aufgestellt waren. Wir mussten uns ein winziges Bad teilen, das den Namen Bad allerdings kaum verdient hatte, denn eigentlich war es nur ein winziges Quadrat von Raum, in dem sich ein Klosett, ein uraltes Miniaturwaschbecken und ein Duschkopf an der Decke befanden. Wollte man duschen, so musste man quasi mit einem Fuß in der Toilettenschüssel stehen. Der ganze Raum war danach mitgeduscht. Also mal ehrlich, Komfort ist etwas anderes.
Doch die anderen, allen vorweg Corinna, betrachteten diese Unsäglichkeit mit unumwundenen Amüsement. Auch die Tatsache, dass man von der Straße aus sage und schreibe vierhundert Stufen erklimmen musste, um unser Domizil zu erreichen, schien außer mir niemanden großartig zu stören. Dachte denn keiner meiner Genossen darüber nach, was es hieße, wenn man nur eine Kleinigkeit im Tal vergessen hätte? Und darüber, was es heißen würde, nach einem langen Exkursionstag hierher zurückzukehren?
Nein, sie verschwendeten keinen Gedanken daran. Denn eins hatte unsere Hütte ganz gewiss: das spektakulärste Panorama aller Zeiten. Über hundertachtzig Grad floss der Blick und wurde dabei paralysiert, denn so viel Schönheit war für das Durchschnittsauge einfach nicht zu erfassen. Die schroffe Steilküste mit ihren bizarren Felsformationen, an die Hänge geklebten Dörfern und dem tiefazurnen Meer, das war eine so unfassbare Kulisse, dass man meinte, einem computeranimierten Filmbild aufgesessen zu sein. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Denn bei meinem ersten Besuch in dieser Gegend war ich für diese superbe Großartigkeit blind gewesen. Was ja wohl auch verständlich war.
*
Am Abend nach dem Ausflug auf die Insel Capri - was die Menschen an diesem überlaufenen Eiland so sehr begeisterte, hatte ich nicht zu ergründen vermocht - suchten wir eine Pizzeria in unserem Dorf auf, gönnten uns gutes Essen und ließen uns von der spektakulären Aussicht, die sich auch hier eröffnete, betören. Der Abend war ideal, laue Nachtluft, tausende von Lichtern, die an der Küste glitzerten, darüber unzählige Sterne und um uns herum der Gesang der Zikaden, der mich in die verzauberte Tiefe der Sommernacht sog wie einst die Sirenen den Odysseus.
Nur deshalb brachte ich vermutlich den Mut auf, Sexy-Willy beiseite zu nehmen, ich müsse etwas Persönliches mit ihm besprechen, so lockte ich ihn. Wir saßen auf einer Mauer, ein Weinglas in der Hand, und ich setzte den verführerischsten Gesichtsausdruck auf, den mein Repertoire zu bieten hatte.
Dann nahm ich allen Mut zusammen und sagte ihm, dass ich ihn sehr möge. Er sah mich verständnislos an und erwiderte etwas in der Art von, klar, er mich auch, ohne weiter auf meine Offenbarung zu reagieren. Wie kann man so schwer von Begriff sein? Ich rutschte etwas näher an ihn heran und bemühte mich, seinen Blick auf mich zu ziehen. Doch er sah nur etwas verlegen von mir weg. Dann jedoch nahm er mit einem plötzlichen Impuls meine Hand.
Schon schwollen die Gefühle in mir an und suchten ihre Entladung im schieren Glück, da blickte er mir mit traurigem Ernst in die Augen und gestand mir, dass er schwul sei. Hallo? Wie total bescheuert war das denn?
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Corinna, die neben Herbert saß und angeregt auf ihn einredete. Dieser dämlichen Ziege flog offenbar alles zu, während ich mal wieder die absolute Niete gezogen hatte. Alles drehte sich in meinem Kopf. Die Welt wurde schwarz. Aber leider befreite mich keine Ohnmacht aus meiner prekären Lage.
Willy, nicht mehr sexy, hatte sich zurückgezogen und ich blieb allein auf der Mauer, Gesellschaft leisteten mir einzig und allein meine trüben Gedanken. Was ich denn da so alleine mache, riss mich eine Stimme aus der Flut der Verzweiflung, die mich auf Italienisch ansprach. Es war Salvatore, unser Gastwirt, und er schenkte mir aus einer Karaffe dunkelroten Wein nach. Den konnte ich jetzt wirklich gebrauchen.
Auf der Mauer sei es nicht ganz ungefährlich, fuhr er fort. Denn dahinter gehe es ganz schön steil bergab. Ich drehte mich um. Himmel, er hatte Recht. Schockiert sprang ich auf, denn ich litt echt unter Höhenangst. Verwirrt und desillusioniert ging ich zurück zum Tisch meiner Reisegenossen. Dort gähnte wenigstens kein Abgrund.
Doch alles hatte seinen Reiz verloren. Das frische Basilikum, dessen intensiver Duft meine Sinne berauscht hatte – nichts als ein grünes Blatt.
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