Wie die Madonna auf den Mond kam
Sakralgegenstände und Heiligenfiguren mit brennender Sorge. Zu den mutmaßlichen Tätern wollte sich der Generalvikar nicht äußern, verkniff sich aber nicht den Hinweis, Angehörige einer nationalen Minderheit, die immer wieder durch Diebereien auffalle, schmuggelten über eine international operierende und aus Moskau gesteuerte Ikonenmafia das kostbare Kulturgut in den kapitalistischen Kunstmarkt. Er werde Pfarrer Wachenwerther daher raten, die Tür zur Kirche nur zu den Gottesdienstzeiten zu öffnen.
Ein neuer Priester, das hieß für mich, der Tabernakel in der Kirche würde wieder für geistliche Zwecke genutzt werden. Bestürzt registrierte ich, wie lange ich nicht mehr an das Tagebuch der Lehrerin Angela Barbulescu gedacht hatte. Das Feuer meines Herzens glimmte noch, doch es brannte nicht mehr. Der Blick in den eigenen Spiegel schmerzte. Aus dem jugendlichen Kämpfer, der bedenkenlos Risiken und Gefahren in Kauf genommen hatte, war ein freundlicher und geschätzter, aber lauwarmer Mann geworden, ein Schankwirt und HO-Konzessionär Ende zwanzig, der sich mühte, es sich mit niemandem zu verscherzen und redlich zu sein gegen jedermann. Ich fürchtete niemanden, und niemand brauchte mich zu fürchten.
Für meine Leidenschaftslosigkeit machte ich niemand anderen verantwortlich als mich selbst. Vielleicht auch ein wenig die Zeit, die mit ereignisloser Eintönigkeit in Baia Luna verstrich. Ich machte meine Arbeit, verkaufte meine Waren, bewirtete meine Gäste und fuhr einmal im Monat nach Kronauburg, um das Warenlager aufzufüllen. Sicher, ich sah die Zeichen des Aufbruchs, doch das Virus der Mattigkeit hatte mich längst infiziert. Nur manchmal regte sich mein Lebenswille, meistens dann, wenn ich den Drang meines Geschlechts verspürte. Dann erleichterte ich mich in der Bezirksstadt bei den käuflichen Frauen, die es im Sozialismus eigentlich gar nicht gab. Wenn die Frauen bereits dem nächsten Freier ins Ohr hauchten, er besorge es ihnen gut, dachte ich wehmütig an jenes Versprechen, das ich in der wunderbaren Nacht mei nes sechzehnten Geburtstags Buba Gabor gegeben hatte, so wie sich Buba auch mir versprochen hatte. Dass wir einst zu Mann und Frau geworden waren, blieb mir nach meinen Besuchen bei den fremden Frauen nur noch bewusst als ein Stachel im Fleisch der Erinnerung, der längst keinen schmerzhaften Aufschrei mehr weckte. Wenn ich mich in einsamen Stunden an Bubas Satz erinnerte, sie werde auf mich warten, überkam mich eine weinerliche Gefühlsaufwallung. Ich betrank mich, fühlte mich stark, voller Kampfeswillen, um jedoch am nächsten Morgen mit brummendem Schädel zu erwachen, unfähig, nach den am Abend zuvor gefassten Vorsätzen zu handeln. Was sollte ich tun? Buba war fort. Irgendwo. Angela hatte sich geirrt. Stephanescu war nicht gestürzt, geschweige denn vernichtet, stattdessen mit Erfolgsmeldungen aus dem Bezirk ständig in den Nachrichten präsent. Heinrich Hofmann war lange tot. Ob durch einen Unfall oder durch die Inszenierung von Stephanescus Schergen, das würde kein Gericht in Transmontanien in diesen Zeiten klären. Die Welt war nicht gerecht. Vielleicht am Ende der Zeiten? Doch der Glaube an das Jüngste Gericht, auf das mein Großvater noch immer in letzter Instanz vertraute, was sollte man davon halten? Konnte sein, dass es so was gab, konnte aber auch nicht sein.
Ich betrat die Kirche am lichten Tag, sprang über die Stufen in den Altarraum und schloss den Tabernakel auf. Alles war noch da. In der grünen Kladde steckten Angelas Kussbild, das Foto mit ihrer einstigen Freundin Alexa im heruntergestreiftem Sonnenblumenkleid, das dazugehörige Negativ und vier schwarze, postkartengroße Bilder mit einem großen und elf kleinen weißen Punkten. Ich schlug das Tagebuch auf, und für einen Atemzug wehte aus dem Büchlein der Duft von Feuer, Rauch und feuchter Erde. »Wer nicht hofft, wird nicht enttäuscht.« Ich erschrak. Ich sah Buba. »Das stimmt nicht, Pavel«, hatte sie einst in meinen Armen zu mir gesagt. »Wer nicht hofft, der ist kein Mensch aus Fleisch und Blut.«
Ich steckte das Tagebuch und die Bilder ein, schloss den Tabernakel ab und ließ den kleinen silbernen Schlüssel stecken. Für Antonius Wachenwerther. Dann ging ich schnurstracks zu den Zigeunern. Zu Susanna Gabor.
»Wo ist Buba?«
Die Eiseskälte, die ich verströmte, ließ Bubas Mutter erschaudern. Alt war sie geworden, die Haare wirr und der Rücken gekrümmt. Ihre einst so großen Augen, die sie auch ihrer
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