Wie die Madonna auf den Mond kam
zuvor gehört. Woher auch? Alles Parteigenossen aus dem zweiten und dritten Glied, die jetzt aus dem Schatten traten. Jeder langte nach dem Mikrofon. Dann war Mircea Dinescu an der Reihe, ein Dissident, ein Schriftsteller, der ständig unter Hausarrest stand. Er verkündete die Flucht des Diktatorenehepaares. Doch ich hatte keinen Blick für den Dichter, nur für seinen Sitznachbarn, rechts von ihm. Ergrautes Haar, sorgfältig zurückgescheitelt, seriöse Erscheinung. Man reichte dem Mann das Mikrofon.
»Liebe Genossinnen und Genoss ... « Doktor Stefan Stephanescu stutzte, schmunzelte. Alle lachten, nur der Dichter nicht. »Meine verehrten Damen und Herren. Ich wende mich in dieser revolutionären Stunde an alle Menschen in unserem Land und rufe die Front der Nationalen Rettung aus. Die Verhaftung des Conducators und seiner Ehefrau, die unsere Nation in den Abgrund gestürzt haben, steht unmittelbar bevor. Sie werden sich vor dem Gericht zu verantworten haben, und ich verspreche Ihnen, unserem leidgeprüften und tapferen Volk ... «
Ich sah, wie sich Kameraleute um Stephanescu drängten.
Sie schoben und stießen einander zur Seite. Mitten durch den Pulk der Journalisten bahnte sich jemand den Weg zum Podium, mühelos, ohne die Ellenbogen zu gebrauchen, so als bemerke er den Tumult um sich herum gar nicht. Es schien, als räume man ihm freiwillig eine Gasse. Ohne Eile, fast bedächtig ging er auf Stephanescu zu. Man sah nur seinen Rücken. Seine helle Kleidung verriet, er war kein Einheimischer. Ein Westler. Amerikaner vielleicht? Er hob einen Fotoapparat vor sein Gesicht. Es blitzte einige Male. Stephanescu lächelte.
Plötzlich knallten Schüsse, die Fernsehbilder verwackelten, Gewehrfeuer ratterte, Granaten detonierten. Die Kameras schalteten um auf den Platz vor dem ehemaligen Königspalast. Hastende Menschen, brennende Barrikaden, heulende Sirenen. Und immer wieder Schüsse, Blut, Verletzte und Tote. Die letzten Getreuen des Conducators brachten den Tod, bis zum Schluss. Dazwischen bewegte sich wieder der Mann mit der hellen Kleidung. Furchtlos und ohne jede Hast schoss er seine Bilder. Ich kannte diesen Gang, sah flüchtig das Gesicht. Über dreißig Jahre war es her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte. Petre Petrov erkannte den Mann nicht, doch für mich bestand kein Zweifel. Fritz Hofmann war zurückgekehrt. In den Fußstapfen seines Vaters. Als Fotograf. Er dokumentierte das Ende des Goldenen Zeitalters.
Ich verließ Drina Kiselevs Wohnzimmer.
»Wo gehst du denn hin, in so einem historischen Moment?«, entrüstete sich Petre.
Doch ich war bereits nach zehn Minuten zurück. In meiner Tasche steckte ein grünes Tagebuch mit zwei Fotografien. Ich schaute Petre an und sagte nur: »Wachenwerther hat einen deutschen Volkswagen.«
»Ich bin dabei.«
Als Petres alter Armeekarabiner im Kofferraum verstaut war, brausten wir los und erreichten die Hauptstadt am frühen Morgen. Es war zwei Tage vor Weihnachten, die Nacht war noch nicht zu Ende, der Tag hatte noch nicht begonnen, und in der kalten Dezemberluft hing der beißende Geruch von Tränengas.
Petre schloss sich einer Gruppe von aufständischen Bergarbeitern aus Lupeni an, die im Wirrwarr der Revolte nicht recht wussten, auf wen sie eigentlich schießen sollten, und ich setzte mich auf ein speckiges Sofa im Foyer des Hotel Intercontinental. Hier stieg die Presse ab. Ich wartete auf den Mann, der einst das Ewige Licht in Baia Luna gelöscht und dem ich den Verrat an Priester Johannes Baptiste in die Schuhe geschoben hatte.
Dann kam er die Treppe herunter, schlendernd. Obwohl eine schwere Tasche mit fotografischer Ausrüstung an seiner Schulter hing, hatte sein Gang etwas Leichtfüßiges, als könne ihn nichts und niemand aus der Fassung bringen. Kein Zweifel, es war Fritz Hofmann. Mein Herz raste. Dieser Mann war ein Fremder. »Du gehörst nicht zu uns«, hatte ich einst zu ihm gesagt. Nun war er zurückgekommen, aus einer anderen Welt.
Ich trat auf den alten Schulkameraden zu. Fritz blinzelte und blieb stehen. Dann ließ er die Tasche von der Schulter gleiten.
»Pavel Botev«, rief er und breitete seine Arme aus, ließ sie aber gleich wieder sinken. Für einen Sekundenbruchteil hatte ich den Eindruck, als schaue Fritz mich nicht an, sondern blicke durch mich hindurch. Wir reichten einander die Hand wie zwei Menschen, die ihrer Freude nicht trauen.
»Pavel, wie hast du es in diesem Land nur ausgehalten?« »Das frage ich mich auch. Und deshalb bin
Weitere Kostenlose Bücher