Wie die Madonna auf den Mond kam
Schon als Neunjähriger soll er mehrsteIlige Zahlenreihen in seinem Kopf multipliziert und dividiert haben, ohne sich je zu verrechnen. Um wegen dieser Begabung unter den Junggesellen aus Baia Luna nicht als Sonderling zu gelten, hatte er als Halbwüchsiger hin und wieder an scharfen Spirituosen genippt. Doch er ließ davon ab, weil er selbst auf einen Fingerhut voll Zuika mit hämmerndem Kopfrasen, Schüttelattacken und Erinnerungslücken reagierte. Ich jedenfalls sah Großvater niemals ein Glas Alkohol trinken.
Sie kamen alle. Früher als sonst saßen sie in der Schankbutike, als hätten sie nur darauf gewartet, diesem nasskalten Novembertag zu entfliehen. Sie gratulierten Ilja mit kräftigem Handschlag, stellten die Geschenkflaschen ab und suchten sich einen Platz. Manche Männer hockten dumpf auf ihren Stühlen, andere ließen sich von mir Würfel und Karten geben.
»Was ist los, Pave!?«, fragte Karl Koch. »Du guckst mieser als das Wetter. Läuft' s nicht in der Schule?«
Ich hörte nicht zu. Umso mehr ich die Gedanken an Angela Barbulescu vertreiben wollte, desto mächtiger drängten sie sich auf. Warum dieser irrsinnige Auftrag? Weshalb musste ausge rechnet ich das Foto des Partei sekretärs Stephanescu an die Wand nageln? Weshalb sollte ich das angekokelte Foto von der küssenden Barbu zur Erinnerung behalten? Herr Hofmann hatte beide Fotos geschossen, und er wusste wahrscheinlich genau, warum das Leben der Barbu aus den Fugen geraten war. Zwischen ihrem Sonnenblumenkleid im Paris des Ostens und ihrem blauen Schmuddelkleid in Baia Luna lagen Welten. Zudem verfügte Herr Hofmann über Mittel, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Bestimmt war die Barbu nicht freiwillig im Dorf. Sicher, als Lehrerin war sie zum Grausen. Aber sie war nicht immer so gewesen. Und dann noch diese fiese Geschichte mit Fritz und seinem Ofenrohr. Umso lebendiger ich mich an jene Schulstunde erinnerte, desto mehr rührte die Lehrerin an mein Mitleid.
»Mach nicht so ein Gesicht, Pavel! Kopf hoch, Junge!«
Ich gab mir Mühe, doch die Last meiner Gedanken wog schwer.
Hermann Schuster ergriff das Wort. Er ersparte sich den Umweg über die Tollwut und brachte die Rede gleich auf den letzten Fünf-Jahres-Plan der Partei. Nun geht der Ärger los, vermutete Großvater. Das verriet sein Blick. Doch der Sachse redete ganz ruhig, sprach vom Vätererbe, von Sitte, Ehrgefühl und Heimat und davon, dass er nicht gewillt sei, die jahrhundertelange Arbeit seiner Vorfahren einem staatlichen Kollektiv in den Rachen zu werfen. »Alles für die Partei, nichts für uns«, rief er aus. »Da sage ich Nein, Nein und nochmals Nein.«
Hans Schneider pflichtete ihm bei und erzählte von Plänen, unweit von Apoldasch riesige Industrieschweineställe aus dem Boden zu stampfen.
»Alles für den Export, alles für den Russen«, ergänzte Hermann Schuster. »Der Kolchos stürzt uns ins Unglück.«
Erstaunlicherweise reagierten die zum Jähzorn neigenden Brancusi-Brüder bemerkenswert sachlich auf Schusters und Schneiders Angriffe. Liviu Brancusi verteidigte die geplante Verstaatlichung der Landwirtschaft und die Industrialisierung Transmontaniens mit dem Fortschreiten des Fortschritts. »Wir müssen endlich aus dem Schatten der Rückständigkeit heraustreten«, sagte er. Getreu dem sowjetischen Vorbild und unter der Führung des Zentralkomitees seien bereits neunzig Prozent des bourgeoisen Eigentums dem Volk zurückgegeben worden, erklärte Liviu. Die Industrie und die Ge1dbanken, das Verkehrswesen und der Großhandel seien erfolgreich in den Besitz der Werktätigen überführt worden, ebenso wie Krankenhäuser, Theater und Lichtspielsäle. Sodann rasselte Liviu die Statistiken über die Quotensteigerung der Milchproduktion und Rindermast in den Bezirken Prahova, Covasna und Buzau herunter, bis er in seiner Zahlenflut zu ertrinken drohte.
Hermann Schuster nutzte die Gunst des Moments. »Lasst uns endlich auf unser Geburtstagskind anstoßen.«
Die Männer hoben die Gläser, da hämmerte jemand von außen mit mächtigen Tritten gegen die Tür.
Großvater öffnete. Vor ihm stand der Zigeuner Dimitru, durchnässt und keuchend, eine riesige Kiste in den Händen, die von einer regentriefenden Wolldecke verdeckt war.
»Platz! Macht Platz! «, rief er, japste nach Luft und drängte mit der Kiste hinein in die Schankbutike. Die Scherban-Brüder sprangen zum Tresen und schoben die Flaschen beiseite, während der kräftige Karl Koch dem schmächtigen Dimitru zur
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