Wie die Madonna auf den Mond kam
Stuhl. Ich fühlte nichts. Doch ich sah alles. Jedes Detail. Ich hatte mich in einen mechanischen fotografischen Apparat verwandelt, der die Spuren der Geschehnisse zwar im Bild festhalten, aber nichts empfinden konnte. In diesem Bild fiel etwas auf, etwas, das sich einbrannte, das mir ins Auge stach. Es war nicht der Pfarrer, nicht die klaffende Wunde, nicht das Blut, nicht die Männer, die ihre Hände vors Gesicht schlugen, nicht wahrhaben wollend, was sie sahen. Inmitten der Bücher und Schreibblätter lag auf dem Boden ein kleiner weißer Zettel. Ein abgerissenes Stück Papier. Nur wenige Worte standen darauf. Eine Notiz, handgeschrieben. Ich war zu weit entfernt, um sie lesen zu können. Das einzige Wort, das ich deutlich erkannte, war ein Name: »Barbu.«
Der Name löste mich aus der Erstarrung. Was immer auch in diesem Zimmer passiert war, ich hatte nur einen Gedanken. Ich musste diesen Zettel haben.
»Wir müssen es melden.« Hermann Schuster wandte sich zum Gehen. Kallay und Koch folgten ihm. Sie gingen rückwärts, die Augen starr, angezogen von der grausamen Szenerie. Petre, der mich früher nie recht beachtet hatte, griff meine Hand. Wie ein Vertrauter, wie ein guter Freund. »Komm, Pavel. Das hier ist nicht gut.«
Meine Augen klebten an diesem Zettel. Ich wollte, aber ich durfte die Notiz nicht einfach an mich nehmen. Doch es musste sein. Jetzt. Wenn erst die Polizei alles untersuchte, war es zu spät. Vom Treppenhaus tönte ein Poltern. Seine Knie trugen Hermann Schuster nicht mehr. Er stürzte. »Petre! Schnell! Fass mit an!« Sofort sprang Petre Petrov zur Treppe. Ein paar Schritte, und ich steckte den Zettel in meine Hosentasche.
Die Männer beschlossen, in Baia Luna vorerst nur die Nachricht vom Tod des Pfarrers bekannt zu geben. Auf keinen Fall sollten zum jetzigen Zeitpunkt die Umstände seines Sterbens an die Öffentlichkeit dringen, vor allem, um die Frauen und Kinder nicht zu ängstigen. Am Nachmittag würde man eine Versammlung einberufen, doch zunächst war das zu tun, was immer zu tun war, wenn ein Dorfbewohner verschied. Karl Koch suchte Julius Knaup auf und wies den Küster an, die Trauerglocken zu läuten. Zwei Minuten später war der Dorfplatz voll mit Menschen, die sich den Schnee aus den Haaren schüttelten und rätselten, wem von den Alten das Geläut wohl gelte. Als der Name Johannes Baptiste die Runde machte, stockte allen der Atem. Die Frauen brachen in Tränen aus. Die Männer senkten den Blick oder schauten ratlos in den lautlosen Flug der Schneeflocken und wussten nicht recht, wohin mit ihren Händen. Bis endlich jemand seinem Nachbarn die Hand reichte, der die seinige weitergab, und schließlich alle Männer und Frauen wortlos umherschritten, um einander das Beileid zu bekunden. Selbst die Brancusis, die ihre Abneigung gegen Kirche und Klerus stets als Teil ihres revolutionären Auftrags verstanden hatten, mischten sich unter die Trauernden, aufrichtig ergriffen vom Schmerz des Verlustes, ahnend, dass Johannes immer ihr Gegner war, aber nie ihr Feind.
Karl Koch machte den Fehler, die Leute anzumahnen, auf keinen Fall das Pfarrhaus zu betreten, bevor man in Apoldasch nach der Polizei gerufen habe. Nach dieser Aufforderung herrschte angespannte Stille, dann erst begriffen die Leute, was der Sachse gesagt hatte. Als Avram Scherban ausrief: »Wofür brauchen wir Polizisten, wenn unser Hirte mit fast neunzig Jahren stirbt? «, kippte die Trauer um in wütendes Entsetzen.
In irgendeiner Ecke kam auf, der Pfarrer sei nicht eines natürlichen Todes gestorben. Alle redeten plötzlich durcheinander, manche schimpften sogar und herrschten Koch an, man wolle endlich wissen, was los sei. Bis Petre Petrov seinen Schmerz herausschrie: »Sie haben ihm den Hals durchgeschnitten. Sie haben ihn getötet. Ihn und Fernanda. Sie haben ihn ermordet. Mundtot gemacht, stumm für immer!«
Petre taumelte auf seine Mutter zu und brach zusammen.
Während sich Aldene Petrov über ihren Sohn beugte, stürmten alle zum Pfarrhaus, Männer und Frauen. Allein die Zigeuner hielten sich abseits des Platzes, bibbernd vor Kälte in viel zu dünnen Kleidern mit der sprachlosen Befürchtung, dass Baia Luna von nun an kein guter Ort mehr sein würde.
Schuster, Kallay und ein paar kräftige Männer versuchten, den drängenden Menschen den Weg in das Pfarrhaus zu versperren. Sie schafften es nicht.
Die Ersten, die ins Pfarrhaus stürzten, drangen bis zu der Mordstatt vor, doch ihr Geschrei verstummte. Dieses
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