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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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Verstummen erfüllte den Raum, breitete sich aus unter jenen, die nachdrängten, auf den Fluren, der Treppe, auf dem Dorfplatz. Ganz langsam, ganz allmählich wurde es still. Man hörte die Schneeflocken fallen.
    »Er ist jetzt ein Engel«, rief plötzlich eine Stimme. Alle schauten zu Dimitru. »Und er soll wie ein Engel aussehen. Und seine Fernanda auch.« Alle wichen zur Seite und machten dem Zigeuner Platz. Auf dem Arm trug Dimitru ein Bündel blütenweißer Bettlaken.
    Schlag vier hingen Julius Knaup und Marku Konstantin an den Glockensträngen und läuteten sich in die Erschöpfung bis in die Nacht. Sechs Männer trugen Fernanda Klein auf ihren Schultern, sechs Männer trugen Johannes Baptiste. Drei links, drei rechts. Hinter ihnen ganz Baia Luna. Unendlich langsam zogen die Menschen durchs Dorf. Durch den ersten Schnee. Flocken fielen auf weißes Leinen . Auf zwei tote Gesichter, auf gebahrt auf Schultern, die kräftig waren und gleichwohl zu schwach. Weiße Flocken auf dunklen Mänteln und auf blonden, braunen und schwarzen Köpfen, die sich nicht schüttelten. Die Männer, die Frauen und die Kinder hielten Kerzen in der Linken, mit der Rechten schützten sie die Flammen vor dem Wind.
    Wir erreichten die Kirche. Die Träger legten die bei den Leichname auf den Altar, wo sie schliefen, in Weiß, wie ein altes Brautpaar. Es gab keinen Gesang, keine lauten Gebete, keinen gemurmelten Rosenkranz. Nur das Läuten der Glocken und manchmal ein Husten zwischen den kalten Bänken. Die Kirche erstrahlte hell, von vielen Kerzen, in Händen, auf die heißes Wachs tropfte. So hell, dass niemand sah, dass das Ewige Licht nicht mehr brannte.
    Ich saß vorn auf der rechten Seite des Kirchenschiffes neben Großvater Ilja und Dimitru. Links saßen die Frauen. Um die Mitternachtsstunde schliefen die Kinder in den Armen der Mütter, die Kerzen waren verbraucht, die Glocken verstummt.
    Während sich Hermann Schuster und Istvan Kallay mit ihrem Gespann der Polizeistation von Kronauburg näherten, kehrten die ersten Bewohner von Baia Luna zurück in ihre Häuser. Erfüllt von Trauer und von der bangen Frage: Wer tut so etwas? Was auch immer sich an Bösem hinter dem Mord an zwei Menschen verbarg, es hatte mehr als nur getötet. Der stillste Tag, den Baia Luna jemals erlebt hatte, brachte die Furcht ins Dorf. Ich war mir nicht sicher, aber ich meinte, auf dem Heimweg zwischen aIl den Schattengesichtern, die aus der Kirche kamen, auch Fritz Hofmann und seine Mutter Birta gesehen zu haben.
    Der Zettel. Seit ich das Papier in der verwüsteten Studierstube vor den Augen des ermordeten Priesters an mich genommen hatte, geisterte die Notiz in meinem Kopf umher. Aber ich hatte nicht denken können. Das Bild des entblößten Baptiste auf seinem Stuhl wütete in meinem Hirn, wuchs heran, wurde größer und mächtiger, drohte meinen Kopf zu sprengen und ließ keinen platz für nichts. Ich saß auf meinem Bett. Auf dem Nachtschrank im Schein der Lampe lag die Notiz: »6. November, A. Barb u, Schlüssel Bücherei. Retour! «
    Mehr stand nicht auf dem abgerissenen Stück Papier. Auf die Schnelle mit einem Bleistift hingekritzelt. Fest stand, eine so eckige und spitze Feder führte nur ein Mann. Von der Haushälterin Fernanda stammten die Worte nicht. Johannes Baptiste hatte sie geschrieben, offenbar am 6. November. Erst als ich diesen Tag Revue passieren ließ, verstand ich, wie es zu diesem Vermerk gekommen war.
    Der 6. November war vergangenen Mittwoch gewesen.
    Früher als sonst war ich aufgestanden, hatte Großvater mit einem Blechtrichter am Ohr erwischt und ihm zum Geburtstag die Kubanischen geschenkt. Dann war ich zum Unterricht gegangen, lustlos wie immer. »Schick diesen Mann zur Hölle! Vernichte ihn! «, hatte Angela Barbulescu mir zugeraunt. Am Mittag hatte ich die Lehrerin letztmals gesehen, wie sie zur Tafel schlurfte, den Putzlappen nahm und den Satz von Fritz und seinem Ofenrohr wegwischte. Nachmittags hatte Dimitrus Vetter Salm an aus Kronauburg mit seinem Fuhrwerk den Fernseher nach Baia Luna gekarrt, unterwegs einen unangenehmen Kerl aufgegabelt und mit ins Dorf genommen. Wahrscheinlich hatte die Barbu den Fremden gekannt und mit ihm in ihrer Wohnstube getrunken. Sie wie immer aus der Flasche, er hatte ein Glas benutzt. Danach war sie verschwunden. Aber die Notiz verriet, zuvor hatte Angela Barbulescu noch den Pfarrer aufgesucht. An diesem Mittwochnachmittag. Vor fünfzehn Uhr. Denn um diese Zeit schleppte Dimitru bereits den

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