Wie die Madonna auf den Mond kam
»Ständig hocken wir zu Hause. Mama will nicht unter Menschen. Das ist ihr alles zu viel. Sie will nie etwas. Und Papa verspricht immer nur. Warum habe ich nicht so ein Glück mit den Eltern wie Alexa und Adriana? Sie fahren im Sommer in die Berge. Irgendwann will Papa mich mit ans Meer nehmen. Macht er doch nicht! «
Mit diesen Zeilen hatte sich der Charakter der grünen Kladde geändert. Was in Mädchenjahren ein Poesiealbum war, wurde zum Tagebuch, das die Barbu offenbar nur sehr sporadisch geführt hatte. Über Jahre hinweg fehlte oft jede Notiz, dann folgten kleine Vermerke, bisweilen auch lange Aufzeichnungen, bei denen die Handschrift die mädchenhaften Rundungen verlor und stattdessen immer grober und ruppiger wurde. Worte waren oft bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, immer wieder hatte die Barbu ganze Textpassagen zwar mit sauberer Hand niedergeschrieben, später aber mit derben Strichen durchkreuzt, was mich zu der Mutmaßung veranlasste, die Lehrerin habe beim Schreiben sicher schwer getrunken, während Buba entgegnete, sie müsse sehr verzweifelt gewesen sein.
»Lass uns nachschauen, was sie in der letzten Zeit geschrieben hat«, drängte ich.
»Nicht so ungeduldig«, bremste Buba, »ich will der Reihe nach wissen, was damals in der Hauptstadt geschehen ist.«
Konnte man den Aufzeichnungen Angela Barbulescus Glauben schenken, so war ihr Vater 1942 als Wachsoldat bei einer Explosion auf den Ölfeldern von Ploiesti ums Leben gekommen, sodass nicht einmal sterbliche Reste für ein Begräbnis übrig blieben. Ihre Mutter Trinka schien der Verlust ihres Ehemannes unberührt zu lassen. Jedenfalls drängte sich der Eindruck auf, dass ihr ereignisloses Leben weiterhin in freudlosen Bahnen verlief. Da nie ein Bruder oder eine Schwester Erwähnung fanden, durfte man annehmen, dass Angela als Einzelkind aufwuchs. Hatte sie schon zu Lebzeiten ihres Vaters unter der Schwermut ihrer Mutter gelitten, so steigerte sich Trinka Barbulescu nach dem Krieg in einen Hass auf alles Lebendige und Fröhliche. Angela hatte wohl hin und wieder versucht, dem Gefängnis des Trübsinns zu entfliehen, doch auf jeden Ausbruchsversuch reagierte ihre Mutter offenbar mit findigen Methoden, ihre Tochter an sich zu ketten. Ob die diversen Krankheiten, vom Migräneanfall über Schüttelfieber bis zur Herzattacke, nun echt waren oder ob Trinka bloß simulierte, war schwer zu entscheiden. Jedenfalls fühlte sich Angela an die stickige Enge der mütterlichen vier Wände gebunden, bis auf einige Vormittage in der Woche, an denen sie in dem neuen Parteikolleg in der Hauptstadt eine Ausbildung zur Volksschullehrerin absolvierte. »Das Studieren würde mir leichter fallen, wenn ich mit den anderen Kandidaten lernen dürfte. Warum macht Mutter es mir so schwer?«, schrieb sie im März 1946.
Am 14- August desselben Jahres, sie war damals immerhin schon fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt, notierte sie eini ge Sätze, die erstmals Zeugnis gaben von ihrer Sehnsucht nach Lebensglück. Ein junger Mann aus dem Kolleg namens Fabian hatte Angela eine Postkarte mit einer roten Rose geschickt und sie gebeten, ihn als Tanzpartnerin auf den Sommerball der Parteijugend zu begleiten. »Ich habe noch nie getanzt. Fabian hat versprochen, mir alle Schritte zu zeigen. Er ist so freundlich, und ich bin so aufgeregt.« Als ihre Mutter erfuhr, Angela würde sich dem Tanzvergnügen hingeben, muss sie tagelang geschwiegen haben, was Angela zwar nicht als Zustimmung, aber auch nicht als eindeutiges Verbot deutete. »Alexa ist lieb«, notierte sie in ihre Kladde. »Obwohl wir uns kaum noch sehen, leiht sie mir ihr blaues Sommerkleid. «
Als wir die folgende Aufzeichnung lasen, weinte Buba erstmals Tränen in das Tagebuch unserer einstigen Lehrerin.
»20. August 1947. Ich hasse sie. Ich hasse sie. Warum musste ich aus diesem Bauch kommen!!!«
Schon am Nachmittag des Ballabends hatte Angela etwas von Alexas rotem Lippenstift aufgetragen und das Kleid der Freundin angezogen. Dann hatte sie am Fenster sitzend gewartet. Als Fabian an der Tür schellte, trat Trinka auf ihre Tochter zu. In der rechten Hand ein Brotschneidemesser. Dann hob sie lächelnd ihre Linke, ratschte einmal über das Handgelenk und spritzte ihr Blut auf das geliehene Kleid. Die Schelle klingelte endlos. Der Anblick ihrer irren Mutter schnürte Angela derart den Hals zu, dass ihr Schrei nur nach innen tönte. Sie warf sich auf ihr Bett und zerbiss ihre Fäuste, Stunden noch, nachdem die
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