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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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sagen, dass sie mir sympathisch war. Doch in diesem Moment warf Julia alles über den Haufen, was ich nach acht gemeinsamen Schuljahren über die Tochter des Eisenschmieds zu wissen glaubte. Sie galt in der Schule als fleißige Streberin. Flink im Kopf und noch flinker mit der Hand hatte sie immer den Finger oben. Egal, ob es einen Dreisatz zu rechnen, Geschichtsdaten aufzusagen oder das Heimatlied Hans Bohns vorzulesen galt, Julia Simenov hatte ihre Hand bereits erhoben, noch bevor Angela Barbulescu eine Frage gestellt hatte. Auch hatte sie sich bei den Lästereien über die Lehrerin stets zurückgehalten, wohl, wie Fritz Hofmann schätzte, um sich mit hervorragenden Zeugnissen den Weg für den Besuch der Höheren Internatsschule in Kronauburg zu ebnen, was noch nie ein Schüler, geschweige denn eine Schülerin aus Baia Luna geschafft hatte. Ohne Frage, Julias Ehrgeiz langte hoch hinaus, und nun stand sie vor mir, mit einem schlichten Kranz aus Tannenzweigen und einem Kreuz ohne Namen. Ich schämte mich.
    Ich zog meine Schuhe an und warf meinen Mantel über. »Ich werde übrigens einen Brief an Fritz Hofmann schreiben. Mein Vater hat die Adre sse in Deutschland herausgefun den. Damit Fritz wenigstens erfährt, was man mit bösartigen Worten anrichten kann«, sagte Julia.
    »Meinst du, die Geschichte mit dem Ofenrohr hat die Lehrerin in den Tod getrieben?«
    »Vielleicht. Als letzter Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wir müssen uns beeilen. Meine Eltern wissen nicht, wo ich bin. Und ich weiß nicht, ob sie erlauben würden, dass wir zu Barbus Grab gehen. Wenn es Frühling wird, können wir auch ein richtiges Kreuz zimmern, mit ihrem Namen und ihrem Geburtsjahr. Hast du eine Ahnung, wie alt sie war?«
    »Sie wurde 1920 in Popesti geboren, in der Nähe der Hauptstadt.«
    »Woher weißt du das?«, stieß Julia aus. »1920! Das kann nicht sein. Du irrst dich, Pavel. Dann wäre sie nur siebenunddreißig Jahre alt gewesen. Sie war bestimmt zehn Jahre älter. Mindestens.«
    »Wenn du meinst«, erwiderte ich knapp. Wir gingen schweigend die äußere Friedhofsmauer entlang. Die Spuren, die die Totengräber am Vorabend im Schnee hinterlassen hatten, führten uns vorbei an der alten Eiche zu der Grabstatt oberhalb der Steinmauer.
    Plötzlich fuhr Julia zusammen und stieß mich an. »Du, da liegt jemand.«
    Neben dem Erdhügel, unter dem die Totengräber Angela Barbulescu verscharrt hatten, lag mumiengleich ein Mensch. Als ich den Kopf sah, der aus einem Bündel Wolldecken hervorlugte, erkannte ich die verfilzten Haare Dimitrus. Noch bevor in mir der Schrecken aufstieg, der Zigeuner sei neben dem Grab womöglich selbst auf ewig eingeschlafen, regte sich das Bündel.
    Dimitru richtete sich auf. Er schlotterte, rieb sich die Hände warm und blinzelte, geblendet von Schnee und gleißendem Sonnenlicht. »Ist die Nacht schon zu Ende?«
    Während Julia vor Verwunderung keine Silbe herausbrachte, sagte ich nur: »Die Nacht hat begonnen. Was machst du hier?«
    »Dasselbe wie ihr«, antwortete Dimitru, als er das Holzkreuz in Julias Händen erblickte. »Ich erweise einem Menschen die letzte Ehre. Einer muss schließlich bei dieser armen Seele die Nachtwache halten. Aber ich bin ein miserabler Wächter. Ich bin eingeschlafen, so wie die Jünger im Ölgarten von diesem Gethsemane.«
    »Das kann man nicht vergleichen, Dimitru! Die Jünger sind eingeschlafen, als ihr Herr Jesus noch lebte«, entgegnete ihm Julia, während sie den grünen Kranz auf den Grabhügel niederlegte. »Du bist während einer Totenwache eingeschlafen. Das muss einem Wächter ja wohl noch erlaubt sein.«
    Dimitru überlegte einen Moment und meinte nur: »Mein Dank für dieses kluge Wort.«
    Ich steckte das Kreuz in den Schnee. Dann stand ich mit meiner Schulkameradin vor dem ungeweihten Grab, still, mit gefalteten Händen, während Dimitru mit diversen Verrenkungen versuchte, den Frost aus seinen Knochen zu vertreiben.
    »Sie war zu gut für diese Welt«, unterbrach ich das Schweigen.
    »Nein«, entgegnete der Zigan, »diese Welt war nicht gut für sie.«
    »Das läuft auf dasselbe hinaus!«
    »Oh nein, Pavel. Das tut es nicht.« Dimitru packte seine Decken zusammen und schlurfte zurück zu seinen Leuten.
    Das alte Jahr ging zu Ende. In der Hauptstadt, aber auch in Kronauburg, selbst in Apoldasch wurden auf Anordnung der Regierung öffentliche Gebäude und Plätze beflaggt. An den Mauern prangten frisch gedruckte Plakate. Auf roten Bannern dankte die

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