Wie Du Mir
Seit Stunden lag er wach und versuchte, sich an den Traum zu erinnern, der ihn aufgeschreckt hatte. Das Schnarchtrio von Rory, McCarthy und Rooney und die muffige Wärme von ungewaschenen Männern hatten ihn letztendlich aus seinem Schlafsack und vor die Tür getrieben, im Magen ein knotiges Gefühl. Die doppelte Dosis der Entzündungshemmer war vielleicht doch keine gute Idee gewesen.
Er lehnte zwischen zwei Stapeln Feuerholz, die ihn schon im Stehen überragten, spürte jede Rundung der Kieselsteinplatten, die das Haus verkleideten, durch seine Jacke und wartete auf den Tag. Immer wieder tastete seine Hand nach der Zigarettenpackung in seiner Jackeninnentasche, und immer wieder fiel ihm ein, dass er nicht mehr rauchte, seit Wochen nicht. Die unbefriedigte Sucht nach einer Zigarette war inzwischen leichter zu ertragen als es die Schmerzen waren, mit denen sein Magen ihn für ein Nachgeben bestrafte.
Vorbei die Zeiten, als er mit Lucky packungsweise Marlboros in Rauch hatte aufgehen lassen. Lucky, der ohne Ende Witze aus dem Gedächtnis erzählen konnte. Dem sogar seine Leidenschaft für James-Bond-Filme peinlich war, denn immerhin war der ein Diener der britischen Krone. Lucky, der jetzt tot war und über den ab übermorgen Gras wuchs.
Nachdem es raus war, hatte Liam ihm auf die Schulter geklopft und Rory sich für seine idiotischen Verdächtigungen entschuldigt, und Dally hatte beides akzeptiert. Sie hatten so vieles im Leben schon geteilt – warum nicht auch die Trauer?
Fußballmatches in den Sackgassen an der Peace Line, die ersten heimlichen Zigaretten, Mädchengeschichten. Immer wieder hatte es Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten gegeben, meistens, weil Rory entweder mit Seán oder Dally in Streit geriet und Liam dann für ihn Stellung bezog. Mit Lucky war das anders. Ihn hatten immer alle gemocht. Ihm wurde immer alles verziehen, wegen seines Babygesichts, das nichts zu ahnen schien von seiner Fähigkeit, auf einen Menschen zu schießen und danach über Fußball zu reden. Für ihn war immer alles einfach gewesen, hatte es nie Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Kampfes gegeben. Vielleicht, weil seine Eltern auch Republikaner waren.
Chief Doherty hatte Dally sofort nach ihrer Ankunft zu sich holen lassen und ihm angeboten, das Training vorzeitig abzubrechen und nach Belfast zurückzukehren. Ein Loyalitätstest, eine halbe Meile gegen den Wind.
Dally hatte abgelehnt und Doherty bedeutungsvoll genickt.
„Das wird diesen Arschlöchern noch leidtun. Früher oder später werden wir Cutter erwischen oder zumindest einen seiner Schoßhunde. Natürlich wirst du bei der Operation dabei sein, wenn es so weit ist.“
Lucky war tot, und Doherty hakte es ab wie einen Streich, den man ihm gespielt hatte.
Wie weit hat uns Luckys Tod denn nun im Kampf zur vereinten Insel gebracht? , hatte Dally fragen wollen. Wie weit der von Mick – und wie weit das Loch im Kopf von einem Polizei-Portier?
Stattdessen hatte er Chief Dohertys Blick erwidert, sich ein „Danke“ abgepresst und das obligate Schulterklopfen über sich ergehen lassen.
Der als besondere Wertschätzung getarnten Verpflichtung, Teil der Ehrengarde zu werden, die am Mittwoch die Salutschüsse an Luckys Sarg abgeben würde, hatte er sich mit der Begründung entwunden, dass sein Platz bei Theresa und seiner Familie sei.
„Ich hab gehört, Marie denkt an Scheidung. Soll ich mit ihr reden?“, hatte sich Doherty mit einem Schwenk zum nächsten unerfreulichen Thema gerächt. Woher erfuhr er das immer so schnell?
„Danke für das Angebot, aber noch ist sie meine Frau. Wir kriegen das schon alleine hin.“ Wahrscheinlich hätte er das „alleine“ nicht so stark betonen sollen, doch die Vorstellung, Chief Doherty würde bei Marie auftauchen, mit seinen behaarten Fingern, der in den Halsfalten vergrabenen Panzerkette mit Kreuzanhänger, der knirschenden Lederjacke, und sie freundlich bitten, doch gefälligst ihre Pflicht als Frau eines Freiwilligen zu erfüllen und bei Dally zu bleiben, hatte ihm Angst eingejagt.
Nach weiterem Schulterklopfen hatte ihn Chief Doherty zum Glück gehen lassen.
Wie ein Teenager hatte er sich im WC des Bauernhauses eingesperrt, sich die Daumenballen auf die Augen gepresst, hatte auf Tränen gewartet, die nicht kamen, auf ein Zeichen, dass er noch fähig war, etwas anderes zu fühlen außer dieser Taubheit, etwas anderes zu denken, als dass er es satthatte. Satt, satt, satt. Satt, einen Krieg zu führen, den er schon
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