Wie ein boser Traum
nicht mehr aushielt, ihn anzusehen. »Auch wenn du das vor anderen bestritten hast; ich weiß es.«
»Ja.« Warum lügen? Es war zu viel gelogen worden.
»Und wie gefalle ich dir jetzt, Emily?« Er packte sie am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
Tränen stiegen ihr in die Augen, so dass sie sich töricht und hilflos vorkam. Was sollte sie dazu sagen? Dass sie selbst jetzt, da seine Hand ihr fest ins Fleisch drückte, von ihm dazu gebracht werden wollte, dasselbe wie damals zu fühlen? Nicht nur er hatte die Fähigkeit zu fühlen verloren.
»Du bist das Einzige«, sagte er so unverblümt, dass sie zusammenzuckte, »was mir geholfen hat, die vielen Jahre in dieser Hölle zu überleben.«
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass er allen Grund hatte, sie zu hassen, und wahrscheinlich wünschte, sie wäre tot. Konnte sie es ihm verübeln?
»Jede Nacht habe ich mir gesagt, ich will noch einen Tag länger leben, nur um sicherzustellen, dass ich hierher zurückkommen und beweisen kann, dass du Unrecht hattest. Um all die Leute, die mich dahin gebracht haben, zu zwingen, sich anzusehen, was sie mir angetan haben.«
Er verstand sie nicht. Sie hatte gelitten, aber nicht so wie er. »Dann bring mich dazu, dass ich büße.« Ihre Stimme klang kläglich, dabei wollte sie doch stark wirken. »Aber deine Mühen werden umsonst sein. Mein Leben ist in jener Nacht zu Ende gegangen, genauso wie Heathers …« Sie blickte in seine Augen – silbrige Schlitze, voller Wut. »So wie deines zu Ende gegangen ist.«
Sie sah den Widerstreit in seinen Zügen. Er wollte, dass sie den Schmerz nachvollziehen konnte, den er gefühlt hatte, selbst wenn es ihr wehtat. Doch etwas anderes wollte er noch stärker. Diese Erkenntnis raubte ihr den Atem … weckte das jahrelang unterdrückte Verlangen. Als sein Blick auf ihren Mund fiel, wusste sie es genau. Eine Art tiefer Erleichterung durchflutete sie bei der Vorstellung, dass sie diesen Teil wiedergutmachen konnte. Dass sie ihm etwas geben konnte.
Langsam, im Wissen, dass er vor jeder jähen Bewegung zurückzucken würde, berührte sie sein Gesicht … berührte die Narbe, die ihn verunstaltet hatte, die Bartstoppeln
auf den hohlen Wangen. Er zuckte leicht zusammen, entzog sich ihr aber nicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, war aber trotzdem nicht groß genug, deshalb legte sie ihm die Hände um den Nacken und zog sein Gesicht hinunter. Dann drückte sie den Mund auf seinen. Seine Lippen gaben nicht nach, machten sie unsicher, doch nur eine Sekunde lang. Sie küsste ihn, bis sein Widerstand nachließ und seine Lippen ein ganz klein wenig weicher wurden. Sie hatte so große Angst davor gehabt, ob sie das hier richtig hinkriegte, aber seine allmähliche Hingabe schenkte ihr Selbstvertrauen.
Er nahm sie fest in die Arme. Sie ließ es zu, obgleich sich ihre Ängste mit einem Durcheinander von Gefühlen zu einem Chaos verbunden hatten, das wild in ihr herumwirbelte. Egal, welche Bestrafung er auch immer für sie vorgesehen hatte – sie hatte sie verdient.
Er griff in ihr Haar, hielt ihren Kopf still und küsste sie gierig auf den Mund. Ihre Ängste schwanden, wichen den mächtigeren, erregenderen Gefühlen des Verlangens.
Sie begehrte Clint Austin.
Vielleicht hatte sie ihn, tief in sich, immer begehrt. Und möglicherweise hatten ihre Freundinnen ja Recht; vielleicht hatte sie auf ihn gewartet. Gott wusste, sie hatte nie einen anderen gewollt – hatte noch nicht mal einen anderen Mann geküsst. Sie drängte sich an ihn, sehnte sich fast verzweifelt nach Körperkontakt.
Als wäre er plötzlich wieder zur Vernunft gekommen, löste er sich von ihr. »Geh.« Das Wort klang undeutlich vor Unsicherheit.
Sie hatte sich wie ein dummes, kleines Mädchen zurückgezogen und ihre Gefühle verleugnet; sie würde
denselben Fehler als erwachsene Frau nicht noch einmal begehen. »Nein.«
Erstaunen flackerte hinter seiner Wut, seinem Verlangen auf. Sosehr sie wollte, dass er es wieder fühlte – das hier war nicht einfach für ihn. Sie hatte lange darauf gewartet. Unsicherheit brachte ihre Entschlossenheit ins Wanken. Was, wenn sie etwas Unrechtes tat? Was, wenn die Romane, die sie gelesen hatte, und ihr Instinkt allein nicht ausreichten, ihr den Weg zu weisen?
Ohne alles noch einmal zu überlegen, trat sie ein, zwei Schritte zurück und griff nach den Knöpfen ihrer Bluse. Langsam löste sie jeden einzelnen, schüttelte die Bluse ab und ließ sie zu Boden fallen. Das Verlangen in seinem Blick
Weitere Kostenlose Bücher